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SELBER IM LOKAL DRINSTEHEN (LESEPROBE I)



               Fritz Hirzel, Komplize, Roman. Bei Limmat erschienen

               unter dem Titel Schindellegi, Paperback, 308 Seiten,

               Zürich 1988.


Der Mann hatte so unauffällig am Nebentisch gesessen,

dass er ihnen im Durcheinander nicht aufgefallen war. Für Bob

hatte es im Grütli anderes gegeben, was seinen Blick

staunen machte, als er von Helen eine Sekunde in Ruhe

gelassen wurde und das Bierglas hob.

      Vom Tisch aus konnte man durch das Wirtshausfenster

sehen, wie die Rangierlok riesengross sich langsam nähernd

im Halbdunkel der Dämmerung Eisenbahnwagen hinter

sich herzog – dicht, gross, übermächtig, lautlos im bierpfützigen

Gelärm, als wollte sie nächstens selber im Lokal drinstehen.

      Unversehens war der Mann dagestanden.

      „Mich hat er übergossen mit seinem Redeschwall”,

sagte Fränzi. „Und erst, was er erzählt hat! So rasch werd ich

das nicht vergessen.”

      Ist der Mann nicht bei Trost gewesen, als er bei Fränzi

sich aufgebaut hat, den Blick auf mich gerichtet? dachte Bob.

Ist der Mann nicht ausser sich geraten, als er auf uns

beide eingeredet hat, seinen Einer Roten bedrohlich in der

Hand schwenkend?

      Bob hatte Mühe gehabt ihn zu verstehen. Der Mann war

betrunken. Er versuchte zu erzählen, wie seine Mutter als junge

Frau ihren Mann verloren hatte. Und er seinen Vater.

      Der Mann hatte blasse knochige Hände. die nicht zu

übersehen waren, da er mit ihnen beredt herumfuhr. Den Arm

hielt er abgewinkelt, während er mit dem Zeigefinger

die Bier- und Rauchluft zerteilte.

      Weihnachtstag sei gewesen, bis ins Tal hinab hätte es

geschneit. Mutter sei von der Frühschicht gekommen, eine der Textilarbeiterinnen bei Heberlein in Wattwil. In der Fabrik

hätte auch der Vater gearbeitet, der Färber gewesen sei.

      Die Mutter, rüstig, sei den Hang hinangestiegen zu

ihrem Heimetli, zu dem ein Stück Boden gehörte, welches sie

nebenher bewirtschafteten. 

      Es sei nachmittags gewesen, da hätten sie den Vater

gebracht – auf einer Trage liegend, kaum mehr ansprechbar.

Ein Arzt, der mitgekommen sei, hätte der Mutter eine

Flasche gegeben, die Medizin.

      Hier machte der Mann, ins Hochdeutsche fallend,

mit der Hand eine Bewegung, die gestochen scharf ausfiel:

die Medizin, einfach die Medizin, so haben sie dem

Zeug gesagt! Jede Stunde einen Löffel voll. Das kommt schon

wieder. Nur warm muss er haben!

      Sie hätten den Vater unten auf die Ofenbank gebettet,

das Schlafzimmer im oberen Stock sei ungeheizt gewesen.

Weil sie aber doch Weihnachten gehabt hätten, sei

Mutter noch rasch ins Dorf einkaufen gegangen – das Nötigste

nur, um baldmöglichst bei ihrem Mann zurückzusein.

      Mit brechender Stimme, den Wein verschüttend, kam

der Betrunkene zum Schluss. Hansueli! Hansueli! hätte sie

gerufen, aber ihr Mann sei schon tot gewesen.

      Der Betrunkene machte, während er mit stierem Blick

dastand, eine Pause. Schliesslich fügte er hinzu, hundert Franken

hätte sie noch bekommen, weil ihr Mann in der

Betriebsfeuerwehr gewesen sei.


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