William Hogarth, After (Outdoor Scene), circa 1731


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Jeder eine Fackel in der Hand


Hier ist sie endlich. Die Händel-Darstellung,

die ins Detail geht. Was Neil Coke hinterlassen hat,

ist ein historisch authentischer Roman, der die

Leerstellen unserer Rezeption ausfüllt. Das ist Händel

in seiner ganzen Unerschrockenheit.



               Neil Coke, Jeder eine Fackel in der Hand. Das verloren

               geglaubte Belair-Manuskript. Herausgegeben von Fritz

               Hirzel. Roman. 498 Seiten. Kaleidoskop CD. Berlin 2008.


Das Eis wird brüchig, auf dem die vornehme Welt sich

tummelt, die in Händels Konzerte kommt. Die Themse friert zu,

England hat Spanien den Krieg erklärt.

      Was ich hier erstmals vorlege, Das Belair-Manuskript

von Neil Coke, galt lange als vom Autor vernichtet. In

der im Nachlass eines Sammlers entdeckten Fassung geht der

Booker-Prize-Träger dem Alltag dreier im öffentlichen

Leben stehender Londoner nach.

      George Friderick Händel zieht, auch wenn eine Aufführung

gleich dreimal ausfällt, im Lincoln’s Inn Fields Theatre

gefasst die Saison durch, hält Proben ab im Haus an der Brook

Street, wo er wohnt, und schafft es trotzdem, sein

Privatleben privat zu halten.

      Samuel Richardson, der in zweiter Ehe verheiratete Drucker

und Verleger, schreibt Pamela, das Tagebuch einer

jungen Schönheit. Sie ist das Dienstmädchen, sie protokolliert

die sexuellen Übergriffe ihres Herrn.

      Susanna Cibber, die Sängerin und Schauspielerin, ist

abgetaucht. Theo Cibber, der Ehemann, verklagt ihren Liebhaber

auf Schadenersatz. Seine Frau stellt er vor Gericht wie

in einer Peepshow bloss.

      Zwei Jahre später, im Fluchtpunkt der Lebensläufe, gibt

sie, als Händel in Dublin Messiah aus der Taufe hebt,

ein Comeback. Hart, anrührend, brillant erhellt der Roman

von Neil Coke in einer Fülle authentischer Details

die Drehkraft menschlicher Leidenschaft zwischen Freiheit, Besitzanspruch und dem Zwang zur Selbstvermarktung.



Madam, London wächst zur perfekten Wildnis heran:

Die Stücke, die Opern, die Masqueraden und Bälle geniessen

nicht länger die Aufmerksamkeit der fröhlichen,

vornehmen Welt. Vom Himmel selbstgemalte Szenen fangen

in diesem schönen Monat an sich auszubreiten und

alle beeilen sich am Charme des ländlichen Lebens teilzuhaben.

Eliza Haywood, The Female Spectator


Rache, Rache fordert Timotheus,

Furien sieht er sich erheben

mit Schlangen, die den Kopf umzingeln,

zuckende Blitze in den Augen,

ein Geisterzug, jeder eine Fackel in der Hand,

tote, in der Schlacht gefallene Griechen,

unbeerdigt, vergessen auf dem Feld.

John Dryden, Alexanderfest


Sie fand sich durch nichts so tief beeindruckt wie durch die schwermütige und schöne Einfachheit, mit der

Pacchierotti die bewegende Wiederholung des Sono Innocente!

hervorstiess. Seine Stimme, die stets entweder süss

oder leidenschaftlich war, verlieh diesen Worten einen Ton

von Sanftheit, Gefühl und Empfindsamkeit, der sie

mit einem ebenso neuen wie entzückenden Schauder erfasste.

Fanny Burney, Cecilia, or, Memoirs of a Heiress


Diese, diese eine Stelle, sagte er, macht mich zum

glücklichsten Mann auf der ganzen Welt, bloss, meine Octavia,

lass mich! All das, während ich ausser mir war und er

seinen Finger in den Schlitz steckte, der sehr klein ist, und ihn

kaum recht hineinbrachte, weil es mir ein bisschen

weh tat, aber im selben Augenblick schrie er auf: Oh, ich hab

ein Mädchen, ich hab eine Jungfrau! Und sogleich

öffnete er mit Gewalt meine Beine und warf sich zwischen

sie flach über mein Gesicht.

Anonymous, A Dialogue between a Married Lady and a Maid



Vorwort

Als das Belair-Manuskript des Schriftstellers Neil Coke

(1911–1973), das lange Zeit als verloren, ja als von

ihm selbst vernichtet galt, in der Bibliothek der University of

Birmingham entdeckt wurde, war das Erstaunen in

der literarischen Welt gross.

      Der 435seitige Text war, ohne dass er beim Ankauf

identifiziert worden wäre, als Teil eines Ende 2005 in den

USA erstandenen Nachlasses nach Grossbritannien

heimgekehrt.

      Dass es sich bei dem Fundstück um eine Rarität aus der

Sammlung von Norman Black handelte, sorgte in der Fachwelt

für zusätzliche Irritation und Verwunderung, galt die

Sammlung, so die unter Sachverständigen vorherrschende

Meinung, doch bereits zu Blacks Lebzeiten als

erschlossen.

      Für die Forschung ungeklärt bleibt die Frage, wie der

Sammler in den Besitz des Belair-Manuskripts gelangte, obwohl

an dieser Stelle nicht verschwiegen sei, dass sich das

Medieninteresse weit eher der mit Schlüssellochspekulationen verbundenen Frage zuwandte, in welcher Beziehung

die beiden Männer zueinander gestanden hätten.

      Coke war 1946 mit seiner Lektorin Leslie Hunt durchgebrannt

und mit dem neu gekauften MG im vierzig Autominuten

von Dublin entfernt gelegenen Belair Hotel bei Ashford abgestiegen, nachdem er sich von Ann Taylor getrennt hatte, mit

der er seit 1939 in einer Ehe immer neuer Zerwürfnisse und Versöhnungen gelebt hatte.

      Im Belair frönte Leslie der Liebe ihres Lebens, den Pferden,

mit denen sie täglich ausritt, während Coke das Belair-Manuskript

in Angriff nahm, das einzig Leslie zu lesen bekam, was

lange Zeit Zweifel an seiner Existenz nährte, ihm aber im

Werkkatalog der jüngeren Coke-Forschung einen Eintrag als

das Belair-Manuskript und in der Literaturkritik den Nimbus

eines roman maudit bescherte.

      Vom Belair-Manuskript war bekannt, dass es drei

im öffentlichen Leben stehende Londoner waren, denen Coke

nachging, und dass es sich bei einem um den

Komponisten George Friderick Händel handelte. Es war also

kein Zufall, wenn das verloren geglaubte Werk ein

halbes Jahrhundert nach seiner Niederschrift im Nachlass

eines Händel-Sammlers auftauchte.

      Norman Black (1906–1989) war in der literarischen Szene

unbekannt. Dass er Coke oder nach dessen Tod Leslie

Hunt je getroffen hat, ist nicht erwiesen. Zeit seines Lebens hatte

Black in Taunton, Massachusetts, gelebt, wo er im Schiffsbau

zu Geld gekommen war, bevor er sich mit Musikalien zu umgeben begann und als Sammler, als ungewöhnlicher Wohltäter für

jeden Forscher und als der grosszügigste Mensch, den wir uns

denken können, bekannt wurde.

      Seine Händel-Sammlung hatte er (nach einem Fehlstart

mit Mozart) bereits vor dem Zweiten Weltkrieg begonnen,

zu einer Zeit, als es noch möglich war Raritäten und

unbekannte Stücke zu einem Preis zu erstehen, der uns heute lächerlich gering erscheint.

      Mit tatkräftiger Unterstützung seiner Ehefrau Carlyle,

einer Kunsthistorikerin, fuhr er bis zu seinem Tod fort

die Händel-Sammlung auszubauen, auch als sie längst aus den ursprünglichen Dimensionen seiner Bibliothek

herausgewachsen und zu einem Archiv von unschätzbarem

Wert geworden war, das in erster Linie Händelianer

nach Taunton, Massachusetts, zog, aber auch die Fraktion

eifriger Studenten des englischen Musiklebens

im 18. Jahrhundert.

      Besonders stolz war der Sammler stets darauf gewesen,

dass es ihm gelungen war eine der zwei unterzeichneten Kopien

von Händels Testament und eines der sehr seltenen

Exemplare des originalen Dubliner Textbuchs von Messiah

zu erwerben.

      Es ist nicht bekannt und nach Stand der Dinge kaum mehr rekonstruierbar, in welchem Jahr Black in den Besitz

des Belair-Manuskripts gelangte. Auffallend ist, dass er es – im Kontrast zu seiner sonstigen Offenheit – nie jemandem

gezeigt zu haben scheint.

      In Sachen Black hilft leider auch der Ende letzten Jahres

zufällig ans Licht gekommene Brief Leslie Hunts aus

dem Jahr 1979 nicht weiter, in dem sie erstmals verklausuliert Männerfreundschaften von Coke andeutet, die sich nicht

in Saufgelagen erschöpften.

      Tatsache ist, dass der Autor der Trilogie Göttin des

Skorpions, für die er 1968 mit dem Booker Prize ausgezeichnet

wurde, in den achtzehn Monaten ihres Aufenthalts im

Belair mit seiner Schreibarbeit nach grandiosem Start in eine

Krise geriet, und Tatsache ist auch, dass er das Manuskript

nach Fertigstellung in einer Verzweiflungstat vernichtete.

      Nun will es ein infernialischer Zufall, wie er zu Cokes

Leben und Werk zu passen scheint, dass sich die

Coke-Forschung vor ein Paradoxon gestellt sieht. Ist sie

bisher davon ausgegangen, dass es keine Kopie des

Belair-Manuskripts gibt, so steht sie nun vor der kniffligen

Frage: Hat Coke die Kopie selbst angefertigt? Oder

hat eventuell Leslie Hunt das getan, ohne sein Wissen? Leider

steht auch sie für Auskünfte nicht mehr zur Verfügung.

      Coke hatte das Belair-Manuskript, wie wir von Leslie Hunt

wissen, lange aufgeschoben. Dass er sich gerade in

Irland daran machte, hat nicht zuletzt private Beweggründe.

Coke war nach seiner Depression plötzlich wie

beflügelt, und Leslie Hunt verstand ihn zu nehmen und

entschädigte sich mit ihren eigenen Vergnügungen,

während er mit ihr „neue, bisher unzugängliche Breitengrade der Kopulation” entdeckte, sodass er wie sie das Leben im

Belair in der anfänglichen Aufbruchstimmung als neugewonnene Freiheit feierte.

      Ebenso hat es mit dem Stand der Recherchearbeit zu tun,

die für  Coke das „Futterkrippenstadium” erreicht hatte.

Das galt zwar für das Hintergrundmaterial im Fall von Susanna

Cibber, die Schauspielerin und Sängerin war 1739

abgetaucht, nachdem heimlich protokollierte Gerichtsaussagen

dazu führten, dass ihr aussereheliches Sexualleben in

Buchform vermarktet wurde.

      Und es galt möglicherweise für Samuel Richardson, den

Drucker und Verleger, und seinen Erstlingsroman Pamela,

die hybride Geschichte einer fünfzehnjährigen Schönheit, in der

Coke die Geburt des Romans schlechthin erkannte.

      Aber es galt bestimmt nicht für den Musiker Händel und

dessen Unerschütterlichkeit angesichts der von Krieg und Frost

geprägten Konzertsaison 1739–40.

      Ihre drei Lebensläufe liess Coke für den Leser unsichtbar

auf einen gemeinsamen Fluchtpunkt zulaufen, den er bei Beginn

der Schreibarbeit in Dublin vermutete, im erhebenden

Zusammentreffen aller.

      Dabei setzte er auf die Anschlussfähigkeit dieser

drei Biographien, deren Individuen er als „psychische Systeme”

verstand, den Systemtheoretiker Niklas Luhmann

vorwegnehmend, der die Biographie lakonisch als „eine Sammlung

von Zufällen” definierte und das Kontinuierliche „in der

Sensibilität für Zufälle” erkannte.

      Als Coke das Belair-Manuskript in Angriff nahm, fehlten

ihm allerdings wichtige Details ausgerechnet für jenen

Handlungsstrang, der auf die Uraufführung des Messiah

zusteuerte, für die der Londoner Händel nach

Dublin auswich.

      Coke hatte sämtliche irischen Quellen dazu ausgeschöpft,

er hatte nachweislich in Grossbritannien Zugriff auf

die einem engeren Kreis zwar bekannten, aber unveröffentlichten Harris Family Papers.

      Aber Coke wollte mehr, um nicht zu sagen Unmögliches.

Was er augenscheinlich im Sinn hatte, war die authentischste Rekonstruktion des Lebens, die er Personen seines

Œuvres je zuteil werden liess. Indem er Händel, Cibber und

Richardson zum Leben erweckte, war alles möglich,

soweit es sich nur als anschlussfähig erwies.

      Coke wollte die Leere der Erinnerung, das Ungeschriebene

der Geschichte aber nicht mit Fantasie, sondern mit

Lebenswirklichkeit aus Eigendynamik und Zeitgeist füllen, was er documentary fiction nannte. Als der Schreibprozess dann

ins Stocken geriet, fiel sein Blick nicht auf das sprichwörtliche,

leere Blatt Papier, sondern auf die überquellende

Uferlosigeit seiner eigenen Vita.

      Und was Coke zuvor als die „begehrte dreibrüstige Terra

inkognita” erschienen war, die ihn „mit Leslies straffen Armen

an sich drückte”, verwandelte sich in Cokes innerem

Auge, das ein vaginales Gewimmel umfing, „als hätte die

weibliche Öffnung in Courbets L‘Origine du Monde

sich vertausendfacht”.

Fritz Hirzel, Berlin 2008


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