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MR. JACK, DER RIESE



              Fritz Hirzel, TagesAnzeiger, Zürich, unidentifiziert


Die Schaubude war mit dem Sternenbanner drapiert,

neben der Kasse wiederholte der Ansager den

Rummelplatzbesuchern, die den Hang zum Albisgüetli heraufkamen, seinen Spruch vom echten, lebenden Phänomen.

War es nicht an derselben Stelle gewesen, wo ich die Dame

ohne Unterleib gesehen hatte? Diesen Kopf einer Frau,

der aussah, als stehe er isoliert auf einem Teller, grausam

abgetrennt vom Körper, ein Antlitz, durch das

Ausharren in der Spiegeltrickkiste gezeichnet, die Perücke

zunehmend verrückt, das Make Up zerfliessend?

Diese Leidensmiene, mit der sie Augen und Mund bewegte,

um zu beweisen, dass sie lebendig war: das hatte

mir, als ich in der Kette der Vorbeidrängenden gestanden hatte,

einen Stich versetzt. War dies letztes Jahr gewesen,

vorletztes Jahr?

      Und diesmal also Mr. Jack, Der Kanadische Riese!

Während der Ansager vor den Unentschlossenen sein Garn

abhaspelte, streckte Mr. Jack zum Beweis die Hand

durch einen Vorhang. Ebenfalls wurde ein Schuh hochgehalten

– Grösse 48 oder 58, ich weiss nicht. Mr. Jack jedenfalls,

diesen Riesen der Riesen, pries er an als Mann, der die Kleinigkeit

von 2.32 m gross war. Dabei spulte er die Saga der

Masslosigkeit ab, wie sie auf dem Jahrmarkt seit Jahren nicht zu vernehmen war: Mr. Jack, im Winter Holzfäller, sei 175 kg

schwer, 28 Jahre alt, geboren in der Provinz Québec

– 70 cm habe er gemessen, als er zur Welt gekommen sei, Kind

einer 13- oder 14-köpfigen Familie.

      Im Innern waren wir rasch zwei, drei Dutzend Leute, die

allenfalls tuschelnd vor dem geschlossenen Vorhang verharrten

– dann, mit zweifachem Ruck, schob dieselbe Hand ihn

beiseite, die Mr. Jack gehörte. Und vor uns stand hünenhaft ein

Mann mit Hut, in schwarzem Anzug steckend, das Hemd

offen. Er hatte eine Brille auf, die mit dicken Gläsern versehen war.

Das gab seiner Bulligkeit etwas nahezu Zerbrechliches.

Indem er ein paar Worte auf Französisch von sich gab, bat

er jemanden aus unserer Mitte zu sich. Ein junger

Schlaks trat mit Grinsen vor, wie ein Kind zu ihm aufschauend,

bevor Mr. Jack ihm den Hut über den Kopf stülpte.

Nach dem Vergleich ihrer Staturen entliess Mr. Jack seinen Partner

und griff nach zwei leeren Champagnerflaschen, die er

ohne Mühe mit einer Hand umfasste und uns entgegenstreckte.

      Etwas Beklemmendes wurde spürbar. Kann sein,

dass wir den Riesen beleidigt hatten durch unser Anstarren,

das nicht ohne Scham und dennoch voller Zweifel

war. Verärgert krempelte er ein Hosenbein hoch – nein, keine

Stelze! Aber es waren halbhohe Schuhe, die zum

Vorschein kamen, Schnürschuhe, wie Behinderte sie tragen.

Zum Schluss reichte Mr. Jack jedem seiner Besucher

freundlich die Hand. Nur kriegte ich sie gar nicht zu fassen,

so gross war sie. Gib richtig die Hand: das müsste Mr.

Jack jedem seiner Besucher sagen! Kein Stuhl, kein Bett, kein

Flugzeugsitz ist für ihn gemacht. Nein, nicht die

Bärenstärke des Holzfällers, sondern eine Ahnung dieses

Abgrunds war es, was mich erschaudern liess.


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