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NETTER ALLTAG
Fritz Hirzel, Netter Alltag, Zürich 1980er,
Erstveröffentlichung.
Die Leute standen im Gedränge auf der Plattform, als der Bus weiterfuhr. Der Betrunkene, der mit uns das Trittbrett
erklommen hatte, kam dem Zwergpudel zu nahe, welcher
der Frau gehörte, die zuhinterst einen Sitzplatz
einnahm und sich mit lauten Worten entrüstete. Der Mann hatte
im Gesicht nicht das entrückte Lächeln, das gewöhnlich
den Trinker verriet. Eher sah er aus wie einer, der zu dieser
Stunde betrunken war, weil etwas Ungewöhnliches
seine Existennz erschüttert hatte. Was mit ihm auch sein
mochte, er war Italiener – das genügte der Frau...
Zwar wirkten seine Gesten fahrig, aber was er sagte, konnte
sie ohne Mühe verstehen. Er sagte Entschuldigung,
und er sagte es nicht ohne einen Rest von Charme. Ob sie
den Hund nicht zu sich nehmen wolle? Nun ging es
aber los. Was er sich erfreche? „Sautschingg!“ Warum er nicht
verreise – dorthin, wo er hergekommen sei? Nicht einmal
gejapst hatte der Zwergpudel, der mit unsicherem Blick dastand.
„Er hat bezahlt, im Unterschied zu dir!“ Fast vergass sie
an der Haltestelle auszusteigen, ihre Begleiterin stupfte sie an,
sie nach draussen ziehend.
„Sautschingg!“ Noch, als die Frau breitbeinig vor dem
Schaufenster des Spielsalons stand, schleuderte sie es ihm nach,
ehe die Bustüre zuklappte – eine füllige Person, eine
Sechzigerin, ungebeugt im Hass der senkrechten Art, mit dem
sie von ihrem Opfer nicht abliess. Unfasslich, wie sie
an diesem einen, ihr zu nahe getretenen Mann sich zu steigern,
sich an ihrem Hass zu berauschen vermochte.
Sie hatte den einen gefunden, an den sie die eigene
Erniedrigung weitergeben konnte, den Mief eines verpfuschten
Lebens, dazu alles, was ihr an Besitzgier, Herrschsucht
und Geltungsdrang immerhin geblieben war. Einen, den sie
ungestraft beleidigen, lächerlich machen und verletzen
konnte. Einen, der in ihr alle Reizbilder wachrief, die sie noch
in Schwingung versetzten – „Faulheit“, „Minderwertigkeit“,
„Trinken, Gesetzesübertretung“, „Kein Erfolg im Leben“, „Ekel
vor Unrat und Schmutz“. Und, was das Neue, das Beste
für sie war, sie war ihren Hass losgeworden, „frei von der Leber
weg“, nicht mehr versteckt, hinter vorgehaltener Hand, als
Witz kaschiert. Es hätte ihr eine auf ihr Mundwerk draufgehört.
Warum habe ich geschwiegen?
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