William Hogarth, The Bad Taste of the Town, 1724. Der Hype
der South Sea Aktie lst geplatzt, Fun wird anderswo gesucht. John Jacob Heidegger, der Masqueraden gibt, steht mit Bannerwerbung
am Fenster des King‘s Theatre Haymarket. John Rich gibt
im Lincoln‘s Inn Fields Theatre gegenüber den Harlequin Mr. Lun.
Jeder eine Fackel in der Hand weiter zurück
LIEBT HÄNDEL MÄNNER?
Die Welt, ein Kaleidoskop. Die Geschichte
ändert sich mit der Person, die sie betrachtet. Was
bleibt, wenn das Ensemble der Sänger den
Plot der kleinen Oper ausgespielt hat, ist stets die
Frage dahinter, und die Frage lautet:
Liebt Händel Männer?
Neil Coke, Jeder eine Fackel in der Hand. Roman.
Donnerstag, 13. Dezember 1739
„Ich leide nie, wenn ich Händel singe“, sagt La Francesina.
„Sein reicher, runder Klang ist ein wirkliches
Vergnügen, eine wahre Freude für die Stimme, selbst wenn
sie tiefsten Schmerz ausdrückt.”
La Francesina, die Elizabeth Duparc heisst, sagt das
zu Ebelin, Händels Kopisten. Er hat sie hinter der Bühne getroffen
und begleitet zur Garderobe, er weiss, sie ist die Nachfolgerin
von Anna Maria Strada del Pò, letzte Saison hat sie in Saul gesungen, in Israel in Egypt, sie ist eine nahezu ausschliessliche
Händel-Sängerin, in Opern oder Oratorios gibt sie die Titelrolle
oder die führende Sopranstimme.
Im Herbst 1736 hat die Konkurrenz sie nach London geholt,
aber in der folgenden Saison ist sie in Händels Faramondo und
Serse aufgetreten. Sie sieht ein wenig aus wie Susanna
Cibber, schmale Oberlippe, einprägsame Nase, grosse Augen, gewelltes, dunkles Haar, breites Kinn.
Sie sieht tatsächlich aus, denkt Ebelin, wie auf dem
Mezzotinto, das John Fabers nach George Knaptons Vorlage
im Jahr nach ihrer Ankunft in London angefertigt hat.
Auf Spitzentönen dahingleiten
Vor der Garderobe bleibt Ebelin stehen, La Francesina tritt
ein und ehe sie die Tür zuzieht, sagt sie: „Es ist unglaublich, wie
intim Händel die Stimme als ein Instrument begreift, wie er
tiefe, reine Emotion mit grosser, technischer Fertigkeit verbindet.”
Ebelin weiss, Technik zeigt sich im Klang, Klang ist der
Schlüssel zur Technik, mit mangelhafter Technik ist der Klang unausgewogen. Es ist Donnerstag, 13. Dezember 1739,
Händel gibt im Lincoln’s Inn Fields Theatre Acis and Galatea,
das ist sein Renner.
In zwei Stunden, denkt Ebelin, als er zum Bühneneingang
wieder zurückgeht, füllt La Francesina den Raum mit Klang, schraubt ihre glockenklare Stimme in höchste Höhen, lässt Farben
aufleuchten, rüttelt Sinne wach.
Er hat die Proben mitgemacht und weiss, La Francesina hält
sich mit Verzierungen zurück und macht nur umso mehr die tonlose, leidende Galatea lebendig. Gleichwohl ist La Francesina eine Stimmakrobatin, eine Artistin, die ihre Zuhörer in Bann schlägt, sie
auf Pianissimo-Kaskaden schweben, auf sinnlich-schimmernden Spitzentönen dahingleiten lässt.
Passagen vom Mob freihalten
Händel hat den Abend umgestellt. Nur Ode for St. Cecilia’s Day,
die neue, die kürzere Ode, behält er bei und nimmt dazu
Acis and Galatea, seine Verfolgergeschichte, ins Programm.
Galatea liebt Acis. Polyphemus liebt Galatea. Er ermordet
Acis. Ein Dreiecksdrama.
In The London Daily Post hat Heidegger einrücken lassen:
Aufgeführt wird heute im Theatre Royal in Lincoln’s Inn Fields
Acis and Galatea, Serenata oder pastorales Entertainment, geschrieben von Mr. Gay.
Zudem wird A Song for St. Cecilia’s Day gegeben, geschrieben
von Mr. Dryden, beide in Musik gesetzt von Mr. Händel.
Mit zwei neuen, zuvor nie aufgeführten Concerti für mehrere Instrumente. Anschliessend die letzte neue Ode von
Mr. Dryden und ein Concerto auf der Orgel.
Logenkarten werden am heutigen Tag am Bühneneingang
verkauft. Es werden besondere Vorkehrungen getroffen
um alle Passagen vom Mob freizuhalten. Beginn sechs Uhr.
Der Donner trifft ein
Ebelin ist gerade beim Bühneneingang angelangt, als
Mr. Stint mit dem Blech durch die Tür kommt. Mr. Stint sagt:
„Ich bringe den Donner vom Covent Garden.” Ebelin
schaut erst Mr. Stint und dann das Blech an und zeigt schliesslich
mit der Hand nach hinten. „Wenn ihr einen Musiker sucht,
ihr findet ihn im Green Room.”
Dabei steht Ebelin mit Blick zur Bühne an einen rückseitigen
Pfosten angelehnt. Auf der Bühne haben die Arbeiter
die Landschaft für die erste Szene aufgebaut. In zwei Stunden
wird in der Kulisse Acis and Galatea gesungen, in der
Besetzung Signora Francesina, Sopran, Galatea; Mr. Beard,
Tenor, Acis; Mr. Reinhold, Bass, Polyphemus.
Die drei machen das unter sich aus, Sopran, Tenor, Bass,
sie sind Nymphe, Schäfer, Monster. John Walsh hat den Abend
zum Anlass genommen die Partitur neu aufzulegen.
In einer separaten Anzeige hat er in The London Daily Post angekündigt: This Day is published Acis and Galatea,
A Serenata, or, Pastoral Entertainment.
Händel auf der Orgel
Das Werk wird seit 1732 mit der Bezeichnung Serenata aufgeführt, Walsh hat nur das Titelblatt geändert, aber die Druckplatten
von 1732 wieder verwendet. Das Textbuch, das im Lincoln’s Inn
Fields Theatre für einen Shilling verkauft wird, skizziert
die Ausgangslage:
Ein ländliches Bühnenbild, gestaltet durch Felsen, Mulden und
einen Fluss. Acis und Galatea sitzen bei einer Quelle, der
Chor der Nymphen und Schäfer verteilt sich über die Landschaft.
Und Polyphemus, der auf einem Berg sitzt, ist zu entdecken.
Ebelin ist gespannt. So hat er Acis and Galatea noch
nie gesehen. Die Angaben (Kürzungen und Änderungen) zur Wiederaufnahme hatte Händel mit Bleistift ins Autograph
eingetragen.
Das waren seine Anweisungen für Ebelins Vorgesetzten, den Chefkopisten John Christopher Smith, der die Direktionspartitur herzustellen hatte. Auf ihr hat Händel die Solonummern mit
den Sängernamen versehen: Francesina, Beard, Reinhold, The Boy oder in treble for the Boy, in hoher Stimmlage für den Jungen.
Es ist das erste Mal, dass Händel Acis and Galatea in zwei
Teilen gibt. Teil eins beschliesst der Chor Happy we, dem er zur Wiederaufnahme das Glockenspiel hinzukomponiert hat.
Teil zwei eröffnet er selbst mit dem Concerto auf der Orgel, drauf
folgt der Chor Wretched lovers!
Todunglückliche Verliebte! Vergeblich warnt der Chor
das junge Liebespaar vor der Katastrophe, dem Monster. Der Berg rumpelt, der Wald wogt, Wellen stürzen beängstigend
über die Küste. Hört, wie das Monster brüllt!
Liebhaber des Mädchens der Primadonna
Ohne Blech tritt Mr. Stint wieder aus dem Green Room,
bleibt einen Augenblick stehen, sieht verstört in die Kulisse und
kommt drauf zum Bühneneingang zurück, wo er zu
Ebelin sagt: „Is Mr. Händel gay?” Ebelin erwidert: „Are you the
Lover of the Primadonna’s Maid?”
Getroffen eilt Mr. Stint zur Tür und verschwindet.
Besonders fröhlich, denkt Ebelin, sieht die Kulisse tatsächlich
nicht aus. Hat er zu scharf reagiert? Noch heisst gay
fröhlich, nicht schwul, noch hat das Wort nicht den doppelten
Boden, und Männer, die Männer lieben, sind Sodomiten.
Das prägendste Merkmal, nach dem sich im Pastorale alle
Arten und Teile, besonders die Melodien zu richten haben,
sagt Johann Mattheson, liegt in der Naïvité, in der unschuldigen, bescheidenen Liebe, in der ungeschminkten, angeborenen
und angenehmen Einfalt, nicht im Frohlocken und Jauchzen und
nicht in prächtigen Aufzügen.
Vor ein paar Tagen hat Ebelin in Der vollkommene
Kapellmeister geblättert, in der Neuerscheinung schreibt
Mattheson 1739:
Ein Pastorale oder Schäferspiel kann zweierlei sein:
tragique, heroisch oder aber comique, landmässig.
Den Unterschied zwischen beiden macht die Musik aus,
nicht das Libretto.
Es irrt, wer meint, die Gattungen unterschieden sich nur
in Umständen, zufälligen Dingen und Wortgestaltung,
nicht aber in der musikalischen Setzkunst. Denn wenn auch alles, grobgesagt, grösstenteils aus Rezitativen und Arien besteht,
so unterscheiden sich diese Rezitative und Arien doch wesentlich
auch in Hauptabzeichen oder Charakter.
Echtes Monster
Rasch haben Parkett, Logen und Rang sich gefüllt, Ebelin
ist in den Oberen Rang hinaufgestiegen, die Aufführung
läuft auf vollen Touren, Beard singt Where Shall I Seek The
Charming Fair?
Und während der Tenor noch nach der bezaubernden
Schönheit sucht, fällt Ebelin vorne links die rothaarige Leserin
auf, die seinen Blick sogleich erwidert, obwohl sie im
Textbuch liest und zudem in Begleitung ist.
In der Pause geht Ebelin aber trotzdem ins Foyer hinab,
wo Smith ihn anredet. „Habt ihr gesehen, wer in der äusseren,
rechten Loge sitzt?” „Nein, wer denn?” „Der Duke of Chandos.”
Suchend mischt Ebelin sich unter die Leute, der Duke
of Chandos steht mit dem Earl of Burlington hinten beim Spiegel,
und als Ebelin sich in die Nähe schiebt, tritt die Duchesse
of Queensbury dazu.
Sie fragt den Duke of Chandos: „Wie war Acis and Galatea
eigentlich im Original in Cannons?” Der Duke of Chandos lacht und sagt: „Wir haben in Cannons nicht das Original gesehen.
Das Vergnügen hat er nur der Duchessa di Laurenzano bereitet.”
Die Duchesse of Queensbury fragt zweifelnd: „Mit der Hochzeitsaufführung in Neapel?” Dabei nickt der Duke of Chandos, kratzt sich am Kinn und sagt beiläufig: „Jaja, in Neapel.
Da war das Monster noch zum Lachen.” Der Earl of Burlington sagt: „Naja, die Zeiten haben sich geändert, und nicht zum Guten.
Heute serviert er uns ein echtes Monster.”
Die rothaarige Leserin
Drauf kehrt Ebelin rasch, als sei ihm plötzlich etwas
eingefallen, in den Oberen Rang zurück, aber die rothaarige
Leserin ist noch nicht da und auch nicht die Begleitung,
und Ebelin hängt Gedanken nach, die sich mit Galatea verbinden.
Was ist sie gewesen, open air in Cannons? wie hat sie sich
verändert, im Lincoln’s Inn Fields Theatre in London? Sie
hat sich befreit, die Nymphe. die Meerjungfrau, sie ist eine
Magierin geworden, eine Meeresgöttin, sie macht jetzt
selbst, was in früheren Fassungen noch ihr Vater gemacht hat.
Jetzt ist es Galatea, die das Blut des toten Acis in die
Flussquelle verwandelt, die in murmelnder Strömung ewig von
seiner Liebe zu ihr berichtet, murm’ring still thy gentle love.
Finis, falls die junge, in Begleitung zurückgekommene, rothaarige
Leserin, der Ebelin immer wieder Blicke zuwirft, bis zum
Ende im Textbuch mitgelesen hat.
Ewige Liebe? Eine Liebesgeschichte, die den Tod
überdauert? das soll Acis and Galatea sein? Sonderbar. Es ist,
als fahre Händel einen anderen Kurs. Nie zeigt er das
Paar glücklich, da mag es im Duett noch so heftig singen:
„Happy we! What joys I feel!”
Mit der Liebe ist es nicht weit her. Hat Polyphemus open air
in Cannons etwas Groteskes, Furchteinflössendes angenommen,
so ist er im Lincoln’s Inn Fields Theatre vollends das Monster
Grosse Geister treffen aufeinander
Und das Monster dominiert die Handlung, dominiert sie
beide, Acis und Galatea, plötzlich erscheint in der
Mitte des Werks Polyphemus, „I rage, I rage, I rage, I melt, I burn”, wütet, wütet, wütet, schmilzt, brennt und verschwindet,
nachdem er Acis erschlagen hat, wieder.
Aber, denkt Ebelin, überwindet Galatea nicht den Tod?
macht sie den Verlust von Acis nicht zum kreativen Akt? Das
Gegenteil trifft zu, denkt Ebelin. Galatea zeigt nur, was
die Scharlatane der Kunst mit dem Tod anstellen.
Er weiss, Händels Libretto ist das Ergebnis eines Staffellaufs literarischer Vermittlung, grosse Geister treffen dabei
aufeinander; Theokrit, der Bukoliker des dritten vorchristlichen Jahrhunderts; Ovid, der ins Exil verbannte Römer, sein
Thema die Liebe;
Dryden, der Verfeinerer englischer Poesie, zwei
seiner Gedichte, Alexander’s Feast und Ode for St. Cecilia’s Day,
hat Händel zur Zeit auf dem Spielplan, die Passage Help, Galatea, help! stammt aus Drydens Ovid-Übersetzung;
Gay, der Autor der Beggar’s Opera, die dem Direktor
des Drury Lane Theatre angeboten und von Colley Cibber
abgelehnt wird. Gay, er vor allen.
Aber auch Pope trägt eine Stanza bei; und Hughes
bringt ins Libretto den Ratschlag des Damon ein, Galatea mit Zärtlichkeit zu gewinnen.
Aber ist Cannons ein Eldorado?
Ebelin weiss, in Händels Repertoire ist Acis and Galatea
eine Bank, das meistgespielte Werk, die kleine Oper, sie liegt in der Sphäre zwischen Oratorio und Serenata, sie ist die Oper im Taschenformat, der Vorläufer des Oratorio, sein Leporello, the little Opera nennt Sir David Darumple sie 1718 in einem Brief
an Hugh Campbell.
Aber Acis and Galatea ist nicht mehr die Oper, die sie bei der englischen Erstaufführung gewesen ist, 1718 in Cannons,
open air im Park von James Brydges, dem Earl of Carnavon,
dem späteren 1st Duke of Chandos, a Duke for no
apparant Reason, einem Herzog aus keinem ersichtlichen Grund.
Hier, im Lincoln’s Inn Fields Theatre, hat Händel einen
Chor auf der Bühne, in Cannons lässt er die Chöre von den Solisten singen, vierundsechzig Blatt hat 1718 das Autograph.
Brydges, Händels Gönner, der spätere Duke of Chandos,
hat sich als Zahlmeister des Marlboroughschen Heeres in den
Jahren von 1707 bis 1712 genug Geld verschafft um in
Cannons bei Edgware, fünfzehn Kilometer ausserhalb Londons,
den ländlichen Palazzo zu bauen, wo Händel achtzehn
Monate Composer in residence gewesen ist.
Ebelin weiss, Cannons bietet den Hintergrund der englischen Erstaufführung von Acis and Galatea, für die Händel die
kleine Besetzung zusammenstellt, die szenische Aufführung in der Tradition der italienischen Serenata, Bühnendekoration,
kostümierte Sänger, die von Beginn bis Schluss auf der Bühne
stehen, keine Action, kein Auswendigsingen.
Eine dienstliche Abhängigkeit besteht für Händel in Cannons
nicht, er ist der freie Künstler, der sich der Gastfreundschaft seines Mäzens erfreut, als Gegenleistung tritt er in der Church
of St. Lawrence als Orgelvirtuose auf, komponiert die Chandos Anthems oder Acis and Galatea, das Hirtenstück für
Cannons, das er mit den Musikern einstudiert, aufführt und als Cembalist begleitet.
Aber ist Cannons das Eldorado? Die Lage, sagt Daniel
Defoe, ist so wunderbar, das Äussere so erhaben und majestätisch, dass weder Feder noch Pinsel es beschreiben können.
Man sollte darüber nur am Ort selbst sprechen, wenn man das Gebäude vor Augen hat und es in allen seinen Teilen
betrachten kann.
Zum Gottesdienst die beste Musik
Und doch spricht Defoe in A Tour Thro’ Great Britain davon,
als er Hamstead hinter sich gelassen hat: In der Nähe dieser Stadt
hat der Duke of Chandos einen der prächtigsten Paläste in
England gebaut, mit Ausgaben in Hülle und Fülle und so gut möbliert, dass er in England kaum seinesgleichen hat.
Stuckaturen und Vergoldungen hat der berühmte Pargotti,
ein Italiener, ausgeführt, die Malereien im grossen Salon oder
der Halle Paolucci. Die das Gebäude tragenden Säulen
sind alle aus Marmor, das grosse Treppenhaus ist extrem schön,
die Stufen alle aus Marmor, jede Stufe aus einem einzigen
Stück, ungefähr zweiundzwanzig Fuss lang.
Die Avenue ist breit und majestätisch und bietet euch den
Blick von zwei Fronten, die sozusagen in einer
zusammengerückt sind, der Abstand gestattet euch nicht,
den Winkel zu sehen, der sich im Zentrum befindet,
so werdet ihr angenehm angezogen und denkt, die Front des
Hauses sei fast zweimal so gross als sie ist.
Und doch seid ihr, wenn ihr näherkommt, erneut überrascht,
wenn ihr seht, wie die gewundene Passage sich öffnet,
eine neue Front gleichsam, die ihr zuvor nicht gesehen habt
und die sich, nahezu hundertzwanzig Fuss weit, dem
Auge öffnet, sodass ihr eine Weile euch darin verliert, aus der
Nähe zu sehen, was ihr augenscheinlich aus weiter
Entfernung gesehen habt.
Die Gärten sind gut angelegt und von grosser Vielfalt,
die Kanäle gross und nobel. Die Kapelle ist eine Einmaligkeit,
was Bauwerk und handwerkliche Schönheit angeht,
und der Duke unterhielt dort einen ganzen Chor und liess
nach Art der Chapel Royal beim Gottesdienst
die beste Musik aufführen.
Der Duke erleidet Verluste
Unter der Decke solchen Glücks, fragt sich Ebelin,
verbirgt sich in Cannons das Monströse? Seine fantastischen
Summen hat Brydges, der spätere Duke of Chandos,
mit Hilfe von Moses Hart gemacht, dem Gründer der grossen
Londoner Synagoge am Duke’s Place.
Und jüdische Banker sind in der Stadt gefragt, auch
einige von Händels Finanzberatern gehören der kleinen, jüdischen
Minderheit an, sechstausend Juden leben 1738 in London.
Premierminister Sir Robert Walpole hat, nachdem die Spekulationsblase der South Sea Aktie 1720 geplatzt war, Samson Gideon, genannt The Oracle of Change Alley, zu seinem
Berater in Finanzfragen gemacht.
Innerhalb eines Jahres war der Wert der South Sea Aktie
von 128 auf 1050 Pfund gestiegen und auf 175 Pfund
drauf wieder gefallen. Nach dem Erwachen aus dem Aktienfieber
ging es für Walpole darum, das öffentliche Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit der Regierung wiederherzustellen.
Händel hatte seine South-Sea Aktien rechtzeitig veräussert,
aber Brydges, der spätere Duke of Chandos, sein Mäzen,
erlitt beim Börsenkrach Verluste, die seinen prinzenhaften
Lebensstil beendeten.
In Neapel wird alles leicht
Intimer, leiser noch als das, was Händel mit englischem
Gepräge in Cannons aufgeführt hatte, war der Einakter
Aci, Galatea e Polifermo gewesen, eine Serenata a tre, mit der
er 1708 in Neapel zur Vermählung des Herzogs von
Alvito mit Beatrice Tocco di Montemiletto aufgewartet hatte, ein neapolitanisches Divertissement, Da-Capo-Arien, kein
Chor, Acis eine Stimme höher als Galatea.
Dem zwanzigjährigen Händel hatte in Neapel ein Palazzo
und eine Kutsche zur Verfügung gestanden, für sein leibliches
Wohl war gesorgt, aber sonst weiss Ebelin wenig über
Händels dreijährigen Aufenthalt in Italien, über die aus einer
Laune heraus angetretene Reise, die Händel zudem
nach Florenz, Rom und Venedig geführt hatte.
Ebelin weiss nur, was Händel in Italien sucht und findet,
ist die direkte Begegnung mit der italienischen Musik, die er nur
aus Hamburg und in verfälschter Form kennt.
Es ist diese Erfahrung, die Händel endgültig aus dem
Mittelmass des Musikers befreit, der sein Leben an einem
der unzähligen, kleinen Fürstenhöfe fristet, wie sie
in Deutschland den Rahmen für die Musik abstecken.
In Neapel, im Überschwang der Jugend, am Fusse des
Vesuvs, beim Festessen mit Trompeten und Arien, wird alles leicht,
das Schäferspiel märchenhaft, unernst das Monster,
ungefährlich, ein Buffo, zum Totlachen, ein Triumphator,
Don Antonio Manna.
Händel bringt ihn voll zur Geltung, er verlangt seiner
Stimme den ganzen Vorrat an Tönen ab, im Extremfall Sprünge
von zweieinhalb Oktaven.
Für sie komponiert Händel die Partie
Manna! Es regne Manna! Ebelin weiss, Aci, Galatea
e Polifermo ist ein kleineres Werk für drei Solisten, Streichorchester, zwei Trompeten, Blockflöte, Oboe und Bassi. Zwei Violoncelli
soli, Kontrabass (Violone grosso) und Cembalo sind ausdrücklich erwähnt.
Bei der Braut – Beatrice, Principessa d’Acaja – handelt
es sich um die früh verwaiste Nichte von Aurora
Sanseverino, Duchessa di Laurenzano. Sie hatte die
Prinzessin aufgenommen und sich 1708 selbst um
die Hochzeitsvorbereitungen gekümmert.
Sie hatte Händel beauftragt, und Aci, Galatea e Polifermo
war womöglich ihr Hochzeitsgeschenk. Das Libretto
hatte Nicola Giuvo, ihr Privatsekretär, geschrieben, der sie
literarisch beriet.
Er benutzte eine sizilianische Sage aus Ovids
Metamorphosen. Sie handelt von der Liebe zwischen Acis
und der Meernymphe Galatea.
Acis ist der Sohn des Faun und einer Flussnymphe des
Simeto, Galatea die Tochter des Nereus und der Doris.
Der Zyklop Polyphem zerstört diese Liebe. Er ist Neptuns
Sohn, er verkörpert den Ätna. Mit Drohungen und Versprechungen wirbt er um Galatea, die aber bleibt dem geliebten Acis treu,
sie weist den Zyklopen zurück.
Und als Polyphem in eifersüchtiger Wut den jungen Acis
erschlägt, bleibt Galatea allein zurück, ein Mezzosopran corto,
Chiara Fuga, eine junge Kammersängerin im Dienste
der Aurora Sanseverino.
Für sie komponiert Händel die Partie. Dieser Galatea
fehlen die tieferen Töne des wirklichen Alt, aber sie ist ungemein beweglich.
Er ist nicht sicher, ob er ihn wiedersieht
Acis and Galatea ist das Gegenteil zur Ode for St. Cecilia’s
Day, dem einzigen Werk, für das Händel keinen Librettisten
braucht, weil er Drydens Gedicht in voller Länge vertont.
Für Acis and Galatea braucht Händel gleich mehrere
Librettisten, es gibt kein Überleben ohne Übersetzen. Ovids
Metamorphosen, die im Dreizehnten Buch von Acis
und Galatea handeln, machen selbst Verwandlungen durch.
Und in die Jahre gekommen verwandelt Händel wieder alles, Landschaft, Libretto, Bühne, macht aus der Open-Air-Aufführung
eine Kammeroper, baut aus, lässt vielstimmiger aufleuchten, reichhaltiger, mit verstärkter Orchestrierung, grossformatiger wie
für ein Gemälde, das eher geeignet ist als Versammlungsort
grosser Geister, als Panoramafenster der Literatur.
Von dem Nachhall dröhnt der Ätna, heisst es bei Ovid,
als das Monster zur Tat schreitet und das Schäferspiel am Fusse
des Vulkans zerstört.
Vom Weiterleben durch Verwandeln handelt im Kern dieser
Mythos, er enthält zugleich den Schlüssel zur Produktivität,
mit der Händel selbst transformiert, raffiniert, austauscht, entleiht,
nicht nur aus eigenen, auch aus fremden Werken, Händel
verwandelt, um weiterzuleben, wirklich alles, auch sich selbst.
Ebelin weiss, wirkliche Fans trifft er auf den billigen Plätzen,
aber als er nach Schluss der Aufführung im Oberen
Rang auf Samuel Taylor stösst, ist er doch überrascht. „Was? Ihr
hier? Ich war eine Zeit lang nicht sicher, ob ich euch
überhaupt je lebend wiedersehe.”
Ein gleichgeschlechtliches Paar
Taylor wechselt das Standbein, blickt ins Unbestimmte und
sagt stolz: „Ja, begnadigt. Von Ihrer Majestät.” Zu spät
guckt Ebelin nach vorne links, die rothaarige Leserin in Begleitung
ist weg. Ebelin fragt: „Und aus Dankbarkeit kommt ihr ins
Lincoln’s Inn Fields Theatre?”
Taylor sagt: „Ich bin immer da, wenn Acis and Galatea
gegeben wird.” „Und”, sagt Ebelin, „wie gefällt euch die neue Aufführung?” Taylor sagt: „Für mich sind Acis und Galatea
ein gleichgeschlechtliches Paar. Mich wühlt das immer auf.”
Aber erst auf dem Nachhauseweg ist Ebelin stutzig
geworden. Was ist, wenn sich herausstellt, dass die
Geschichte aus der Antike nur als Maskierung dient, wenn
sie verkleiden und vertuschen soll, dass Acis und Galatea
ein gleichgeschlechtliches Paar sind?
Knistert verkappt die Aktualität im Kostüm des Schäferspiels?
Führt Acis and Galatea in solcher Maskierung vor, was
1739 in London mit Männern geschieht, die Männer lieben?
Ihnen droht das monströse, englische Gesetz, das sie
zum Tod verurteilt. Oder ihnen droht ein leibhaftiges Monster,
das sich als Mann erweist, der Männer liebt, eine Machtposition
inne hat und in äusserster Heuchelei handelt. Oder aber
ihnen droht als Monster das andere Geschlecht, eine eifersüchtige
Frau, die als Furie der Rachsucht agiert.
Die Welt, ein Kaleidoskop. Die Geschichte ändert sich
mit der Person, die sie betrachtet. Was bleibt, wenn das Ensemble
der Sänger den Plot der kleinen Oper ausgespielt hat,
ist die Frage dahinter, und die lautet stets: Liebt Händel Männer? Händel schafft es, sein Privatleben privat zu halten.
Nicht jeder schafft das. Ein Mann, der Männer liebt, lebt nicht
privat in dieser Zeit.
Zwei Sodomisten
Taylor ist, hatte Ebelin letztes Jahr in The Daily Gazetteer
gelesen, einer der zwei Männer, die das Gericht zum
Tod in Newgate verurteilte, weil sie die abscheuliche Sünde der Sodomie begingen.
In einer Bedürfnisanstalt in Old Round Court, Strand,
erwischt sie Mr. Wyndham, vor Gericht macht er dazu die Aussage:
„Am 31. Januar sieben Uhr abends sagte mein Diener,
als er den Laden zusperrte, dass sich zwei Burschen seit einer Dreiviertelstunde im Gewölbe aufhielten. Ich dachte,
es könnten Diebe sein.“
„Also nahm ich eine Kerze, mein Diener folgte mir, und ich
ging raschen Schrittes zu dem Platz und fand dort Taylor, der nicht
auf dem Sitz, sondern auf dem geschlossenen Teil über
ihm sass, und Berry sass in seinem Schoss, und beide hatten
die Hose herunter.”
John Berry, St. Olave’s Street, Southwark, wird verhaftet,
und mit ihm Taylor, dem er im Schoss gesessen hat. Und Berry unterschreibt das Geständnis, das unverkennbar ein
Polizeibeamter aufgesetzt hat. Darin steht:
Taylor fragte mich, ob ich mit ihm ginge, und ich ging
mit ihm zur Joy Bridge, aber ein Licht kam, und wir gingen zur Bedürfnisanstalt in Round Court, und Taylor fragte, ob wir
es machen wollten. Wir machten die Hose herunter, und Taylor
beging mit mir zweimal den Akt der Sodomie, und
das zweite Mal ertappte Mr. Wyndham uns auf frischer Tat.
Sie ahmen Frauenstimmen nach
Erst die Falle, drauf das Urteil, drauf die Begnadigung.
Für Männer, die Männer lieben, ist das zweischneidig, nicht nur
in unteren Rängen.
Früher hat es für sie eine Einrichtung gegeben, das Molly
House, das Bordell für Männer, die Männer lieben, aber das ist
über ein Jahrzehnt her.
In der City of London, in Holborn, betreibt Margaret Clap
ein solches Haus. Es steht seit Dezember 1725 unter Beobachtung,
im Februar 1726 wird es nach einer Razzia geschlossen,
im Juli darauf findet der Prozess statt.
Vor Gericht sagt Samuel Stevens aus:
„Sonntagabend, 14. November letzten Jahres suchte
ich ihr Haus an der Field Lane in Holborn auf, wo ich zwischen
vierzig und fünfzig Männer vorfand, die Liebe miteinander
machten, wie sie sagten.“
„Manche sassen einander im Schoss, küssten sich
und machten es einander mit der Hand. Dann erhoben sie sich, tanzten, machten Hofknickse und ahmten Frauenstimmen nach.”
Margaret Clap, die Puffmutter, wird verhaftet. The Mist’s
Weekly Journal berichtet: Letzten Samstag endeten die Sitzungen
in Old Baily mit Todesurteilen für acht Männer und eine Frau.
Es handelt sich um den Mörder Peter Piercy, die Strassenräuber
Edward Reynolds und Thomas Smith, die Pferdediebe
Richard Hinton, Thomas West, John Beakes und William Flowers,
um den aus der Strafverschickung zurückgekehrten
John Claxton und die Diebin Mary Standford. Zu Pranger verurteilt wurden wegen Meineids Muckleston, ein Anwalt, dito wegen sodomitischer Betätigung Thomas Brown, Benjamin Mackintosh
und Margaret Clap.
Die Puffmutter am Pranger
Margaret Clap. Ihr Name ist das Schlusslicht auf der Täterliste,
die The Mist’s Weekly Journal im Juli 1726 abgedruckt hat.
Auch The London Journal erwähnt sie:
Margaret Clap, der Führung eines ordnungswidrigen Hauses
zum Vergnügen der Sodomiten an der Chick Lane überführt,
wurde zu Pranger in West Smithfields, hundertdreissig
Pfund Busse und zwei Jahren Gefängnis verurteilt.
Hat Du Burk ihm das erzählt?
Ebelin weiss nicht, was er davon halten soll. Als er John
Du Burk gestern getroffen hat, steht Händels Diener
mit Schürze und Putzlappen an der Hausorgel, ein Gurren
ist vom Fenster her zu hören, und Du Burk sagt:
„Verscheisst mir das Fensterbrett, der Vogel!”
Du Burk hat sich daran gemacht im ersten Obergeschoss
das augenblicklich unbenutzte, hintere Zimmer sauber
zu machen, und als er mit dem Putzlappen über die Keyboards
der Orgel fährt, seinen Gegner, die Taube, entdeckt.
Du Burk hebt den Kopf, klatscht in die Hände,
die Taube hebt den Kopf, rührt sich aber nicht und blickt
Du Burk verständnislos an, das Auge direkt auf
ihn gerichtet.
Er stürzt zum Fenster, klatscht nochmal in die Hände.
„Hau ab! Hau endlich ab!” Da hebt die Taube nochmal den
Kopf und flattert weg, und Ebelin fragt sich: Ist es nicht Du Burk gewesen, der ihm von Margaret Clap erzählt hat?
Weil sie Engel für Männer halten
Ihr Haus ist nur eines unter mehreren, die bei den Razzien
geschlossen werden, die sich ins Frühjahr 1726 hineinziehen.
Noch im Mai berichtet The British Gazetteer:
Wir hören, dass gegen zwanzig Häuser entdeckt wurden, die sodomitische Clubs unterhielten.
Neben nächtlichen Versammlungen, wo solche niederträchtigen Personen sich in grosser Anzahl zu sogenannten Märkten
treffen, in Bedürfnisanstalten in Royal Exchange, Moorfields,
Lincoln’s Inn, an der Südseite des St. James Park und auf
der Covent Garden Piazza, wo sie den Handel abwickeln und sich darauf in dunkle Ecken verziehen um zu indossieren, wie sie
sagen, was auf Englisch heisst, um Sodomie zu treiben.
Da aber die Regierung nun ihre Verfolgung aufgenommen
hat, besteht kein Zweifel, dass sie streng darauf bedacht sein wird
sie aufzuspüren. Somit kann von diesen Städten das
gerechte Urteil abgewendet werden, das der Himmel über Sodom
und Gomorra verhängte, wo die Söhne ewiger Verdammnis,
die unseren englischen Sodomiten in ihrer Aversion gegen das weibliche Geschlecht sosehr glichen, Lots Töchter
zurückwiesen und Engel begehrten, weil sie die für Männer hielten.
Männer lassen sich erwischen
Liebt Händel Männer? Ebelin muss lachen. Er weiss,
es gibt für die Annahme aus seinem Leben keinen einzigen,
konkreten Hinweis, kein einziges, lebenspraktisches
Detail ist Ebelin bekannt.
Aber mal angenommen, Händel ist diskret, mal angenommen,
seine Diskretion und die seiner Partner genügt, um das geheimzuhalten, ein unwahrscheinlicher Fall bei der notorischen Ungeniertheit seiner Zeitgenossen, mal angenommen,
es ist das Tabu, das in der Oberschicht das Schweigen sichert,
es ist die Strafe, die zu bedrohlich ist, zu furchterregend,
als dass einer Händel das Delikt anhängt.
Edel, aber unwahrscheinlich. Händel bringt alle
Voraussetzungen mit um Opfer einer Verleumdung zu werden.
Er hat Neider, er hat Vermögen. Er ist bekannt. Das macht
ihn erpressbar. Ausgerechnet Händel soll keiner über den Weg
laufen, der zu Geld kommen will?
Er ist der gefeierte Musiker, tritt vors Publikum, dirigiert
Sänger, Chor, Orchester, glänzt als Cembalist, als Orgelvirtuose.
Er ist eine öffentliche Grösse in der Stadt. Auf dem Markt
fehlt es nicht an gut verkäuflichen Karikaturen, die sein bekanntes Laster, die Fresslust, in ein grelles Licht rücken.
Aber was ist mit dem Appetit auf Liebe, mit dem Kitzel
der Sinnlichkeit, der Erregung? Noch hat als Wort Sex nicht das Prickelnde, das den Geschlechtsverkehr zweier Personen
meint. Das Wort bezeichnet vorerst nur das Geschlecht.
Und da gibt es Männer und da gibt es Frauen,
und was die Männer angeht, die Männer lieben, so lassen
sie sich erwischen.
Jeder eine Fackel in der Hand weiter zurück