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VOR GERICHT
Lachen? Das ist vor Gericht Durchblick, Publikumsreaktion, Störgeräusch. Und der Humor?
Der ist ein Faktor. Richter und Angeklagter
sind aber nicht auf Augenhöhe. Und der Humor fällt
manchmal herunter.
Fritz Hirzel, Passagiere des Glücks. Wem Lachen auf
die Sprünge hilft. Essay. 140 Seiten. Berlin 2004
„Bevor Sie mich verurteilen, möchte ich das Gericht
daran erinnern, dass ich durch das Gebäude nur gegangen
bin, weil ich ein WC gesucht habe.”
Das sagt der Angeklagte. Er steht unten. Oben sitzt
der Richter. Der Kopf des Angeklagten reicht genau bis zur Richtertischkante. Asymmetrisch ist das. Darauf
richten Cartoonisten im Gericht immer wieder unser Augenmerk,
P. C. Vey im New Yorker Anfang Februar 2003 in diesem Fall.
Nein, auf gleicher Augenhöhe sind sie nicht. Der Richter,
der Angeklagte. Ist einer hier in die Mühlen der Justiz geraten?
Das fällt uns ein. Und nicht, was der Richter dazu
sagen könnte.
„Mehr und mehr realisieren Richter quer durch das
Land, dass sie eine Verpflichtung haben, die Probleme zu lösen zu versuchen, die die Leute vor Gericht bringen.”
Das lesen wir zur gleichen Zeit, in der US-Fachzeitschrift
Judicature von Januar-Februar 2003. Es ist der Vorspanntext
zu einem Viewpoint, in dem Greg Berman und
John Feinblatt vorschlagen:
„Machen Sie das Experiment, gehen Sie in die Bar
an der Ecke und fragen Sie ein paar Leute, was sie vom Gericht
halten. Da ist es gut möglich, dass die meisten gar nicht
wissen, wie Gerichte arbeiten und vague Vorstellungen davon haben,
womit Richter und Anwälte den Tag verbringen.
Sollten Sie Glück haben und jemanden finden, der ein
oder zwei Dinge über Gerichte weiss, dürften Sie eine Klagelitanei
zu hören bekommen – Gerichte sind zu langsam, Richter
sind nicht zu erreichen, dieselben Straffälligen strampeln immer
wieder durch das System.”
Greg Berman ist Direktor des Center for Court Innovation.
John Feinblatt wird als dessen Gründungsdirektor
vorgestellt. Er ist Strafgerichtskoordinator von New York.
„Ein problemlösender Richter”, sagen sie, “benutzt eine breite
Skala möglicher Sanktionen, zu denen auch medikamentöse Behandlung, psychologische Beratung, Jobtraining und Gemeindedienstprojekte gehören.“
Weil ich ein WC suchte
Der Angeklagte hat, sagt er die Wahrheit, nur ein WC
gesucht. Was aber sagt der Richter dazu? Das steht nicht
im New Yorker. Aber Judicature hat Juli-August 2002
selbst einen Cartoon veröffentlicht. Der zeigt
den Richter oben, die Richtertischkante auf Höhe der
Köpfe von Angeklagtem und Anwalt, letzterer in
grobkariertem Anzug.
Hier sagt der Richter: „Die Anklage gegen Sie ist abgewiesen,
aber Ihr Anwalt wird zu Brooks Brothers verurteilt für eine
komplette Überholung.” Brooks Brothers? Das ist ein Kaufhaus
in Manhattan. Eine Weltmarke für den gutgekleideten Herrn.
Muss ich jetzt ins Gefängnis?
Ein weisser Damenslip. Baumwolle. Feinripp. 4.50 Euro.
Die Frau steht am Wühltisch. Kaufhausbummel.
Einsame Feiertage liegen hinter ihr. Sie sieht sich kurz um.
Die Luft scheint rein. Schnell steckt sie den Slip
in ihre Tasche. Jetzt steht sie vor dem Amtsgericht.
Eine 71jährige Rentnerin. Gehbehindert. Ihr sechster
Prozess wegen Diebstahl. Einsame Feiertage stehen ihr bevor. Es
ist Dezember 2003. „Am Wühltisch wurde sie wieder
schwach”, beginnt der 40-Zeilen-Bericht im Tagesspiegel.
„Die Schlüpfer lagen da so”, sagt sie. Eine Spandauerin.
Sie nickt, als der Richter fragt: „Kommen Sie mit ihrer Rente aus?”
Er redet von Einsperren. Er schimpft. Er blickt streng.
Sie schluchzt. Krokodilstränen! Die braucht sie, sagt er, hier nicht
zu vergiessen.
„Muss ich jetzt ins Gefängnis?” Er verurteilt sie. Zu einer
Geldstrafe. 60 Tagessätze zu je zehn Euro. Sie strahlt. Sie bedankt sich. Mit einer Geldstrafe hat sie gerechnet. Seit Februar
hat sie, sagt sie, Geld zurückgelegt. Jeden Monat 40 Euro. Dann steht sie draussen. Vor dem Portal. Sie ist Moabit entronnen!
600 Euro.
Richter Sander mag Wiederholungsfragen nicht
„Humor und Zuverlässigkeit”: Das ist das, was Dr. Günther
M. Sander „an Freunden” gefällt. Sander ist Verwaltungsdezernent
für den Dienstbereich Moabit. Er ist 42jährig, hat an der
Freien Universität studiert und war bis Mitte 2002 zwei Jahre
Vorsitzender einer Grossen Strafkammer.
Jetzt wird er im Verbandsblatt Deutscher Richterbund,
Mitteilungen Landesverband Berlin 4/2003 vorgestellt. Das bedeutet, dass er „Die 13 Fragen” beantwortet. Zwei Kolonnen.
„Was mir gefällt!” Daneben „Was mir nicht gefällt!” Was denn
„an Freunden” nicht? „Das sage ich ihnen selbst.”
Oder „am Aufwachen”? Da mag er, „wenn die Sonne im
Zenit steht”, nicht „Frühtau und Frühnebel”. Das Foto zeigt ihn lachend. Brille. Schwarzes T-Shirt. Als Papa mit Baby auf dem Schoss.
Was Sander nicht gefällt „an der Gerichtsverhandlung”,
sind „Wiederholungsfragen und zeitraubende Dispute zwischen Verfahrensbeteiligten”. Was ihm gefällt? „Das faire und
professionelle Ringen um die Wahrheit (mit anschliessendem
– selbstverständlich zuvor nicht vereinbartem –
Rechtsmittelverzicht).”
Richter Bräutigam verhängt Geldstrafe
„Situation in Alt-Moabit”: Ein Klageschrei! Betroffen:
Hauptabteilung E. Dieselbe Richterbund-Nummer. Drei Fotos.
Das „Containerdorf”. Seit elf Jahren stehen hier Baracken.
Im Herbst 2003 haben sich die Umzugshoffnungen
der Gerichtsmitarbeiter zerschlagen.
Das Gebäude des Oberverwaltungsgerichts wird nicht frei.
„So sehen die betroffenen Mitarbeiter nach dem extrem heissen Sommer (nicht nur in den Zimmern direkt unter dem
Blechdach staute sich die Hitze unerträglich) mit Schrecken dem kommenden Winter entgegen.” Aufgrund der unzureichenden
Isolierung hätten zumindest die Kollegen im Erdgeschoss
mit „Eisfüssen” zu rechnen.
Das Gericht ist überlastet. „Bei der Moabiter
Staatsanwaltschaft ist die Personalnot mit 70 fehlenden
Staatsanwälten geradezu katastrophal.” Der das
feststellt, ist Hansgeorg Bräutigam, Vorsitzender Richter am Landgericht a. D.
„Die tatsächliche Besetzung ist so gering, dass viele
Verfahren auf längere Sicht unbearbeitet liegen bleiben werden.”
Bräutigam schreibt das im Berliner Anwaltsblatt
Juli/August 2003.
„Dabei handelt es sich immerhin auch um die Abteilung, die
den sogenannten Stadionstaatsanwalt stellt, der ohne jeden
Zeitausgleich bei allen Grossveranstaltungen im Olympiastadion
der Polizei in der Stadionwache zur Verfügung steht,
um prozessuale Massnahmen anzuordnen oder einzuleiten.”
Im selben Blatt ein Foto, auf dem Richter Bräutigam a. D.
zu erkennen ist: Sportlich-elegant. Brille. In ganzer
jugendlicher Frische. Weisse Hose. Weisses Hemd. Leuchtender
Veston.
Der Schnappschuss gehört zu sechs Schwarzweissfotos,
die das „8. Autorentreffen des Berliner Anwaltsblattes“ festhalten. Bräutigam mit der rechten Hand in der Hosentasche, in der
linken ein halbgefülltes Glas. Hält er das zufällig in der Linken? Ist
das Foto seitenverkehrt abgedruckt? Ist er Linkshänder?
Mit Schwimmerinnen hat Bräutigam zu tun gehabt. Er führt
1998 den Doping-Pilotprozess gegen DDR-Sportärzte. Wegen
„Beihilfe zur vorsätzlichen Körperverletzung an neun
minderjährigen Athletinnen” hat er Geldstrafen verhängt.
Im Deutschlandfunk sagt Bräutigam, als der Interviewer
anführt, man könnte also sagen, es gehe um die
notarielle Beglaubigung des Unrechts: „Das ist eine Vokabel,
die ich des öfteren gebraucht habe.” Die höchste
Geldstrafe hat er gegen Dr. Bernd Pansold verhängt. DM 14 400.
Richter Feinman hat Sinn für Humor
Ist Humor ein Faktor, wenn ein Richter „die Probleme zu
lösen versucht, die die Leute vor Gericht
bringen”? Hat Witz mit Wahrheitsfindung zu tun?
Fördert es die Einsicht ins begangene Unrecht, wenn ein
Angeklagter lacht? Behindert es sie? Droht Saalräumung, wenn
dem Richter missfällt, dass das Publikum lauthals lacht?
Solche Fragen werfen nur ein Streiflicht auf die Interaktion,
die sich zwischen Richter und Angeklagtem abspielt.
Banaleres prägt auf den ersten Blick die Verhandlung, Fragen wie:
Ist ein Richter „gut hörbar”? Kann er „zuhören”? Hat er den Gerichtssaal „unter Kontrolle”?
Das sind die häufigsten, jeweils zuerst getroffenen
Feststellungen eines 2001 in New York veröffentlichten Berichts,
in dessen Weichteilen Humor und Lachen nichtsdestotrotz
eine Rolle spielen.
Verfasst hat ihn Kimyetta R. Robinson. Sie ist die Direktorin
des Gerichtsmonitorings beim Fund for Modern Courts,
einer „private, nonprofit, nonpartisan organization”, die den Bericht zuletzt ins Internet stellt. Schauplatz ist das Strafgericht
der City of New York.
Hier besuchen 26 Monitore Gerichtsverhandlungen.
Laien, keine Juristen. Frauen überwiegend. Insgesamt sind es
28 Richter, die verschiedene Monitore von März bis
Dezember 1998 mehrmals beobachten.
Einer ist Richter Paul G. Feinman. „Seine angenehme Haltung
und sein Sinn für Humor zerstreuen alle Feindseiligkeiten
unter den Anwälten”, schreibt ein Monitor.
Aber was meint er mit angenehmer Haltung, mit Sinn
für Humor? Beispielsweise sagt Richter Feinman einem Angeklagten,
er solle sein Lederjackett in die Pfandleihe bringen,
wenn er die Geldstrafe für Drehkreuz-Überspringen nicht
bezahlen könne.
Einmal ist der einzige Angeklagte, den Richter Feinman
grüsst, ein alter Mann. Er sagt zu ihm: „Good morning,
Sir.” Ein anderes Mal ist Richter Feinman „entgegenkommend”.
Als ein Angeklagter sagt, er habe kalt, ordnet Richter
Feinman an alle Fenster zu schliessen.
Haft für Missachtung des Gerichts
Ruhiger tritt Richterin Arlene D. Goldberg auf. „Normalerweise
ist ihr Verhalten ernsthaft und würdevoll, aber sie ist
menschlich genug für ein gelegentliches Lächeln”, schreibt ein
Monitor.
Ihn beeindruckt, wie Richterin Goldberg Angeklagte
behandelt. „Sie ist sehr fair.” Sie hört zu, wenn ein Angeklagter
ihr etwas direkt zu sagen hat.
Keine Robe trägt Richterin Judith Anne Levitt, die
leutselig und „good-humored” daherkommt, gut gelaunt.
„Sie wirkt ungezwungen, lacht und scherzt mit den
Gerichtsbeamten und Pflichtverteidigern”, schreibt ein Monitor.
Als Richterin Levitt einen Angeklagten aufruft, klettert der
über die Stuhlreihe. Sie lässt ihn zurückgehen, er soll aussen herum kommen. Aber als sein Fall fertig ist, klettert der Mann wieder
über die Stuhlreihe.
Dafür könnte er fünf Tage im Gefängnis verbringen, sagt
Richterin Levitt. Aber das Urteil wolle sie gegen ihn nicht verhängen! Alle im Gerichtssaal jubeln, lachen und applaudieren.
Ihr kommt die Wut hoch. Das Gericht zum Circus machen!
Sie lässt den Mann mit Handschellen an einer
Bank festmachen. Nachdenken soll er.
„Ihrer Autorität ziemlich sicher“ scheint Richterin Donna
G. Recant, „die doch einen Sinn für Humor behält”, wie ein Monitor schreibt. Ein anderer rühmt „ihre grossartige Haltung
– sie lächelt, hört zu und grüsst Anwälte, die vor ihr erscheinen”.
Als ein Angeklagter eine Geste macht, sagt sie mit sehr
strenger Stimme: „Sie haben ihre Hand in einer drohenden Geste
um ihren Nacken gelegt. Das ist die verächtlichste Geste,
die ich je gesehen habe.” Dann verurteilt sie den Angeklagten wegen Missachtung des Gerichts zu dreissig Tagen Haft.
Ruhiger, kleiner Mann vor Gericht
„Spielerische Haltung”, „gut gelaunt”, „Sinn für Humor”: So etwas zeichnet noch drei weitere Richter aus. Aber im Gerichtsaal
eines vierten versteht ein Monitor nur Bruchstücke, weil „Anwälte, Gerichtsbeamte und Zeugen (Polizei) während der
Verhandlung reden und lachen”.
Lachen? Das ist hier alles. Durchblick, Publikumsreaktion, Störgeräusch. Und der Humor? Der ist ein Faktor.
Richter und Angeklagter sind aber nicht auf Augenhöhe.
Und der Humor fällt manchmal herunter.
Kein Richterwitz? Kein Anwaltswitz? Fragt jemand Ruthmarie
Shea, ob sie einen Anwaltswitz hören wolle, sagt sie
„Nein”. Sie ist selbst Anwältin. In der University of Detroit Mercy
Law Review hat sie im Frühling 2000 konstatiert:
„Anders als Fisch und Gäste, die nach drei Tagen stinken,
wie Benjamin Franklin meinte, stinken Anwaltswitze
sofort. Nichtsdestotrotz haben sie’s geschafft akzeptiert zu sein.
Sie werden von einem enthusiastischen Publikum
geschätzt, als handle es sich um exquisiten Roquefortkäse.”
Das Unglaublichste zum Schluss: Ist der Witz ein Beweis?
Ist der Beweis ein Witz? Ein ruhiger kleiner Mann
steht vor Gericht. Der Richter wirft einen Blick zu dem Mann
hinunter und dann auf die Anklage und wieder mit
Erstaunen dann hinunter zu dem kleinen Mann.
„Können Sie mir in ihren eigenen Worten sagen, was
passiert ist?”, fragt der Richter. „Ich bin ein Mathematiker, der
mit der Natur des Beweises befasst ist”, sagt der Mann.
„Ja, fahren Sie fort”, sagt der Richter verwundert.
„Tja, ich war in der Bibliothek und fand die Bücher, die ich
wollte, und wollte sie mitnehmen. Sie sagten mir, mein Bibliotheksausweis wäre abgelaufen und ich müsste mir einen
neuen holen gehen.
Ich ging also zum Registrierungsbüro und stellte mich dort an.
Ich füllte meine Formulare für eine neue Karte aus und
stellte mich an für meine Karte.” „Ja, fahren Sie fort”, sagt der
Richter. „Und er fragte, ‚Können Sie beweisen,
dass Sie aus New York City sind?’ Da hab ich ihn erstochen.”
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