VOLL GUT DRAUF
Fritz Hirzel, Rike Mohaupt. Roman. Kapitel XVI
SIE WEISS, SIE HAT DIE KURVE GEKRATZT, SIE BEHAUPTET
nicht, sie ist voll gut drauf, den Umständen entsprechend,
ist sie das nicht? Rike Mohaupt hat getan, was sie hat tun müssen,
sie hat Stephen Wagoner nicht gesehen, nicht bis zur Stunde,
und er sie nicht, sie hat sich gegen seine Nachstellungen gewehrt,
er hat sie bedroht, es war Wahnsinn, sie hat sich behauptet,
aber sie denkt nicht, sie hat Grund stolz zu sein, sie hat überlebt,
es hat Kraft gekostet, viel Kraft. Der Angriff. Die Verteidigung,
Sie ist davongekommen, gerade nochmal, aber sie redet sich nicht
ein, sie ist unversehrt, sie ahnt die körperliche Gewalt,
die sie fast das Leben gekostet hat, sie ahnt sie mit jedem
Atemzug, sie lebt unerkannt, sie lebt in Queens, sie
sucht Arbeit, sie findet nichts, sie wohnt bei Steamboat, sie hat
nichts mit ihm, sie fährt mit der Hand durch das Haar,
sie lacht, sie fragt sich, hat sie das drauf? das Mohaupt-Gen?
Sie besucht am Nachmittag ihre Mom in Brooklyn,
sie steht an der Hooper Street vor der Haustür, sie läutet,
sie hat beisammen, was sie gesucht hat. Familiengeschichte,
Spurenanlalyse, DNA. Am Ende, denkt sie, bleibt die Frage,
hat ihre Mom das gewusst? Ireen Mohaupt, die Photographin?
hat sie das mit August Mohaupt gewusst? Ireen öffnet,
Rike tritt ein, eng hier, denkt sie, es ist eng hier, sie setzt sich,
Ireen stellt Pringles auf, die normalen. The original stacked
snack—as classic as a can of soda pop, sie serviert Tee, sie sagt:
„Hab ich es nicht gleich gesagt? Er hat den Kapellmeister
nicht umgebracht.” Das andere, das mit Dr. Bernhard Gröttrup,
Hirsch und Sam Mayer, scheint Mom nicht zu interessieren.
Da ist der Argwohn, Rike wird den Argwohn nicht los. Eng hier,
es ist sehr eng hier, das fällt auf einmal auf, jetzt, wo
Rike lange Zeit nicht hier gewesen ist, aber es ist nicht eng
allein, es ist noch etwas anderes, was hinzu kommt,
etwas, für das Rike das passende Wort jetzt erst einfällt, es ist
etwas faul, Rike hebt den Kopf, sie überblickt die
Atelierwohnung, sie schnuppert, sie denkt, es riecht nach
toter Ratte. Ireen sagt: „Ich hab eine Überraschung für
dich.” Sie öffnet die Tür zur Dunkelkammer, die sie noch immer
benutzt. Rike glaubt es nicht. Stephen tritt aus der Tür.
Er winkt mit tiefgehaltener Hand. Stephen Wagoner. Ihr Ex.
Der Stalker. Er knipst ein Lächeln an. Rike sagt: „Ich
kann nicht bleiben. Ich kann nicht.”
Heute wird er hingerichtet.
Mittwochmittag, 30. August 1944. August Mohaupt hat einen
Termin auf der Landespolizeidirektion, Gothaer Strasse 19.
„Unterschreiben!“ sagt Ernst Zühlke, Kriminaloberassistent
mit Flatterohr. Bestätigt erhalten zu haben, liest Mohaupt. Das
Papier, das ihm Zühlke überreicht, ist eine Quittung.
Mohaupt unterschreibt. Es ist wenig genug. Er steckt das
Geld ein. Schade um Olly, denkt er. Die Lange mit
dem wohlgeformten Busen, Olga von Roeder, die Claire
Waldoff um Kopfeslänge überragt. Schade um ihre
Schwester, für die Zühlke sich lange interessiert hat, Gertrud
von Weyrauch, verheiratet mit Oberst Eberhard von
Finckh. Mohaupt hat an der Gothaer Strasse 19 abgeliefert,
was er über die Gesellschaft ausfindig hat machen
können. Finanziell, denkt er, war das nicht halb so ergiebig
wie das mit der Reichsbank, das mit von Fürich und
dem Geburtstagsgeschenk für den Führer, das mit Immer
feste druff! Zühlke räuspert sich. Er sagt: „Er ist in Paris
verhaftet worden. Heute wird er hingerichtet. In Plötzensee.
Gehängt.” Mohaupt zögert. Er fragt: „Der Oberst?
Gehängt? Eberhard von Finckh?” Zühlke fegt das unterschriebene Papier in die Schublade. Er ist aufgestanden. Er hat zu tun.
Er verabschiedet sich zackig. „Heil Hitler.” Dann sagt
er noch: „20. Juli. Stauffenberg. So einer!”
Mohaupt läuft die Martin Luther Strasse hoch. Es ist ein
Jahr später, der Krieg aus, es ist Freitag, 27. Juli 1945. Er pfeift
vor sich hin. Plötzlich verlangsamt er den Schritt, bleich,
erschrocken. Else, denkt er. Sie hat ihre Schätze verloren. Die
Schallplatten mit Senta Söneland. Es geht ihr nicht gut.
Aber sie jammert nicht. Er jammert. Nicht mal eine Cigarette
hat er. Er hat überlebt. Das ist alles. Ein Gewitterguss
ist niedergegangen. Es ist heisser Sommer. Es riecht nach
Bauschutt. Er streift mit einem Blick die Schutthaufen
entlang der Martin Luther Strasse, endlose Schutthaufen. Ein
Mann kommt ihm entgegen. Das Flatterohr! Ernst
Zühlke! Mohaupt blickt geradeaus. Er kreuzt ihn. Er grüsst
nicht. Er beschliesst, er legt keinen Wert auf die
Bekanntschaft. Er beschliesst, er kennt ihn nicht. Er beschliesst,
er hat ihn nie gesehen. Vorbei und vergessen! Nach
vorne schauen! Zühlke ist stehen geblieben. Er dreht sich um.
Er schaut ihm nach. Mohaupt spürt den Blick im Rücken.
Er geht weiter. Er sagt sich, ich bin nicht, wer er denkt. Er denkt,
er hat im Widerstand gekämpft. Er hat keine Zeit für
die Vergangenheit. Er ist in Eile. Er hat eine neue Stelle. Als
Verwalter. Endlich.
Manhattan, Upper West Side, Samstagabend, kurz vor acht. Rike ist entlang der Autos unterwegs,
kaum Passanten am Central Park West, der Bürgersteig
voller Pfützen und Blätter, es regnet, es ist windig, es ist laut.
Sie klatscht mit der Hand auf die Notebooktasche,
die sie an der Schulter hängen hat. Die Tasche wiegt leicht.
Ihre Erkenntnis ist da drin, der ganze biedere Wahnsinn,
DNA, Familiengeschichte, Mohaupt-Gen, tötliches, dummes, altes
Zeug, das sie in sich trägt, August Mohaupt, ihr Urgrossvater,
Hauswart und Portier, Bayerischer Platz, Berlin-Schöneberg, ein
Mörder, ein dreifacher mindestens. Sie hat ihrer Mom
in Brooklyn zuviel zugemutet, es ist so lange her und so abstrus,
das alles. Nicht jeder, der eine Reise gemacht hat, findet
Zuhörer für die Geschichte, die er zu erzählen hat. Rike lacht.
So ist das. Sie läuft Central Park West entlang, links die
Autos, die Fahrbahn regennass, rechts der Central Park, vor Nässe
triefend. „Don´t argue! Enough is enough!” Rike spricht nicht
ins Handy, sie redet mit sich selbst. Der Regen wird stärker. Sie hat
die Flucht ergriffen. Mom hat ihr den Weg abgeschnitten.
Mom! Rike denkt, sie ist entkommen. Sie zittert. Sie wischt den
Regen aus dem Gesicht. Sie ist wütend. Das ist es. Oder
ist das Gegenteil richtig? Hat Mom ihr zuviel zugemutet? Rike hat
eine solche Wut. Ireen Mohaupt, die Dunkelkammermutter.
Rike ist die Tochter, sie ist die Tochter geblieben. Ireen Mohaupt
hat sie nie ernst genommen, sie hat Rike nie für voll
genommen. Rike ist das Kind, das Mädchen, das Schulmädchen
geblieben. Ireen Mohaupt kann es nicht lassen. Sie überlegt.
Sie muss der Tochter helfen. Sie arrangiert. Diese Scheusslichkeit.
Ihr Ex, der Überraschungsgast! Stephen, abgelichtet,
entwickelt, auferstanden. Der Wind wird stärker. Rike fährt mit
der Hand durchs nasse Haar. Sie weiss, das ist nicht
alles, Hooper Street, Brooklyn, das Schulmädchenleben, das hat
sie verloren, sie ist geflüchtet, sie ist immer nur geflüchtet,
denkt sie, auch jetzt, sie hat sich versteckt, in Queens, sie hat
keinen Augenblick Ruhe gefunden. Sie hat bei Steamboat
in der Wohnung ein Papier gefunden, ein Papier zu Art and Wine.
Das erstaunt sie nicht weiter. Was sie erstaunt, ist das
Datum. Ein aktuelles Datum. Die Teilnahmebestätigung für den Aussteller Art and Wine, NYC, vertreten durch Mr. Wagoner
und Mr. Glass, an der 9th Annual Miami International Wine Fair.
Ist Steamboat bei Stephen beteiligt? beim Neustart mit
Art and Wine? Unglaublich, denkt Rike. Jetzt weiss sie es. Sie ist
auf der Stelle ausgezogen. Und Fabio Calvani, den sie
in Berlin zurückgelassen hat? Ist Fabio bei Art und Wine ebenfalls beteiligt? Das würde einiges erklären. Sie hat nie
verstanden, was Fabio gemeint hat mit dem Satz, dem oft
wiederholten, It’s tough, but we move on. Ist es das,
was er gemeint hat? Ihr Fabio, ihr Liebster? Sie weiss es nicht.
Sie hat übersetzt, denkt sie. Aber nicht exakt genug.
Sie hat Text übersetzt, der vorgegeben ist, aber das reale Leben
ist anders, es schafft neues Leben, es vernichtet altes.
Sie denkt, es ist ihr entgangen, das reale Leben. Sie hat übersetzt,
aber sie hat die Übersetzung nicht gelebt, sie hat Text
übersetzt, nicht das Leben, nicht die Liebe, nicht die Beziehung
der Geschlechter. Rike ist mit niemandem verabredet.
Zwei Mittvierzigerinnen mit vom Wind umgedrehten Schirmen
keuzen sie auf dem Bürgersteig, hinter ihnen ein
siebzigjähriger Jogger. Rike fragt, wo steht sie selbst im Leben?
Sie hält an. Sie sieht, sie ist Central Park West 90th Street.
Was die Männer angeht, die sie geliebt hat, ist jeder mit der Zeit
ihr unheimlich geworden. Sie beisst in den Fingernagel.
Sie lacht, sie weiss, 24 West 90th Street wohnt Stephen Wagoner,
sie weiss, er ist zuhause, sie hat angerufen, sie hat,
als er sich meldet, sofort aufgehängt, sie hat eine Luger in der
Notebooktasche, die hat sie von Steamboat bekommen,
schiess ihm in die Beine, falls er dich überfällt, aber das tut sie
nicht, sie schiesst Stephen, sobald er die Tür öffnet,
in die Brust. Du schaffst es immer, sagt die Stimme, die Beziehung
zwischen Mann und Frau ist funktionalisiert oder gar nicht,
Kämpfen, das ist Leben, Jagen und Schiessen, das ist Leben, die
Stimme wird dünner, die sagt, du bist kein Mann, mach,
was du immer gemacht hast, das Herdfeuer hüten, du bist eine
Frau, hau ab. Sie dreht sich, die Ampel springt von roter
Hand auf weisser Mann, sie tritt auf den Fussgängerstreifen, sie
hebt den Fingernagel des rechten Daumens zum Mund.
Ein Fight, ein Beziehungsdelikt, das hält ein Paar aus, Mord und
Totschlag, das hält ein Paar aus, Jagen und Schiessen
und Töten, das ist das Prickelnde zwischen Mann und Frau. Sie
beisst den Nagel ab. Es knallt. Ein Toyota hat gestoppt.
Rike liegt auf der Strasse, reglos, verdreht, kreideweiss, die Notebooktasche weggeschleudert.