Anonymous, Mary Pendarves, 1720er. Spät hat die Liebe Patrick

Delany erwischt, aber er täuscht sich in der Liebe. Es ist

nicht Händels Muse Susanna Cibber, die er ewig lieben wird. Es ist

Mary Pendarves, Händels Nachbarin und Supporterin.


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MESSIAH


„Frau, dafür seien euch all eure Sünden

vergeben!“ ruft Patrick Delany in den Konzertsaal,

nachdem Susanna Cibber die Arie He was

despised gesungen hat. Tatsächlich? Delany

müsste komplett von der Rolle sein.



               Neil Coke, Jeder eine Fackel in der Hand. Roman.

               Donnerstag, 3. Juni 1742


„Woman, for this be all thy sins forgiven thee!”

ruft Patrick Delany in den Konzertsaal, als Susanna Cibber

die Arie He was despised gesungen hat. Frau,

dafür seien euch all eure Sünden vergeben? Das ruft Delany?

Das ruft er tatsächlich?

      Es ist Donnerstag, 3. Juni 1742, und Händel

führt das zweite Mal Messiah auf, nicht in London, der Metropole,

in der er seit drei Jahrzehnten lebt, das stösst Ebelin auf,

nein, in der New Musick Hall an der Fishamble Street in Dublin,

im Staate Liliput, wie Swift Irland in Gulliver’s Travels

nennt, Swift, der Musik nicht mag, Swift, der Dekan, der Händel

die Sänger der St. Patrick’s Cathedral zuerst verweigert,

Swift, Delanys Freund!

      Wer immer, denkt Ebelin, und mit welcher Absicht auch

die Behauptung von Delanys Zwischenruf in die Welt

gesetzt hat, sein einziger Zeuge ist ein Mr. Sheridan senior, der

in Dublin Lehrer ist und ebenfalls Swifts Freund.

      Aber Mr. Sheridan senior, hat Ebelin, der als Kopist nach

Dublin mitgereist ist, gehört, hört ziemlich schlecht, er ist

nämlich seit drei Jahren tot, und sein Sohn, Thomas Sheridan

junior, Swifts Patenkind, der angehende Schauspieler,

Bühnenmanager und Einpauker der Redekunst, erwähnt

in seinen Schriften den Vorfall mit keinem Wort.

      In British Education schreibt er in Band VIII zwar

über Susanna Cibber, aber er schreibt ausschliesslich über ihre

Stimme und ihren Ausdruck. Sheridan junior schreibt:

      Keine Person von Sensibilität, die das Glück hatte

Mrs. Cibber im Oratorio von The Messiah singen zu hören, dürfte

es sehr schwierig finden die äusserst wunderbaren

Effekte dieser in einer so machtvollen Vereinigung produzierten

Musik anzuerkennen.

      Es waren aber weder aussergewöhnliche Stimmkräfte

(sie hat nur eine mässige Stimme) noch hochgradige, musikalische Fertigkeiten (viele Italiener sind ihr da zugegebenermassen

überlegen), denen sie ihre Exzellenz zu verdanken hatte, sondern

allein der Ausdruck, ihre anerkannte Überlegenheit, in der

sie von nichts ausgehen konnte als der Fähigkeit in ihrem Beruf.

      Später wird in Thomas Davies’ Memoirs of the Life

of David Garrick aus dem Zeugen Mr. Sheridan senior sogar

„ein gewisser Bischof”, aber einen Bischof Sheridan

gibt es nicht.


Komplett von der Rolle 

Das ist es, denkt Ebelin. Wir rücken dem Klerus näher!

Frau, dafür seien euch all eure Sünden vergeben?

Sünden? Was hat Susanna Cibber denn für Sünden begangen?

Ist das ein Ablasshandel? Deklamations- und Gesangskunst

gegen Sündenerlass?

      Gewiss, der Konzertsaal ist überfüllt, das Publikum

gebannt, die Luft stickig. Zuoberst, meldet Faulkner’s

Dublin Journal, ist an jedem Fenster eigens eine Glasscheibe

entfernt worden to keep the room as cool as possible.

      Es stimmt trotzdem nicht, denkt Ebelin. Er hat

es anders gehört. Aber selbst wenn Delany dazwischengerufen

hat, was kolportiert wird, welche Absicht ist mit der

Kolportage verbunden?

      Rev. Dr. Patrick Delany ist kein Unbekannter.

Er ist nicht das Galeriegespenst, das Aufmerksamkeit und

Zuwendung sucht. Delany müsste mehr als nur

einen Aussetzer haben, er müsste komplett von der

Rolle sein.

      Sich vor versammelter Dubliner Society mit einem

Zwischenruf von solcher Selbstgerechtigkeit exhibitionieren?

Delany ist der Autor der Reflections upon Polygamy,

er wird in London gedruckt, sein Drucker und Verleger ist

Richardson, der als Herausgeber (oder ist er nicht

doch der Autor?) von Pamela den Sensationserfolg der

letzten Jahre gelandet hat.

      In Messiah tritt Susanna Cibber mit He was despised

zu Beginn von Teil II auf, als der Chor mit Behold the

Lamb of God zuende ist. Delany hat das Textbuch gekauft,

Price a British Six-pence, das Textbuch nennt die

Arie einen Song, und dieser Song ist viermal so lang wie der

vorangegangene Chor, He was despised dauert

zwölf Minuten, für jeden Apostel eine Minute.

      Was ist mit Delany? Tickt er noch richtig? Er lebt allein,

Margaret, seine Ehefrau, ist letztes Jahr gestorben,

er ist siebenundfünfzig, er hat ihr Vermögen geerbt, es bringt

ihm 1600 Pfund im Jahr ein, er hat finanziell ausgesorgt.

      Bei Richardson gibt er gerade An Historical Account of the

Life and Writings of King David, Band II und III, in Druck,

Band I ist 1740 erschienen.

      Delany ist protestantischer Pfarrer, Swift nennt ihn „den

besten Prediger, den wir haben”. Ein Kreis intellektueller Freunde

verkehrt bei Delany, er lebt in Dublin in einer Villa mit

grossem Garten, seit vier Jahren gibt er The Tribune heraus.


Stigma? Markenzeichen?

Dass Händel in der New Musick Hall Messiah aufführt,

hat er erst Tage vor der Uraufführung im April bekanntgegeben.

Ebelin hat gehört, es sei die Duchesse of Devonshire

gewesen, die Händel, als die erste Konzertreihe im Februar auslief,

auf einem Dinner bei Mrs. Vernons’ auf Clontarf Castle

darauf angesprochen hätte.

      „Und, wenn ich fragen darf”, wendet die Duchesse

of Devonshire bei Tisch sich an Händel, „was habt ihr noch im

Gepäck?” Und Händel erwidert: „Messiah. Und Samson.”

      Hat Händel das aufgespart? Und früher, letztes Jahr,

was Ebelin fast noch mehr interessiert: Hat Händel gewusst, dass

er Messiah für Susanna Cibber schreibt? Händel hat die

Partie in Dublin persönlich mit ihr eingeübt.

      Was Delany angeht, so hat er, auch er, von Susanna

Cibber gehört, der Skandal läuft dieser Frau voraus, aber das ist

nicht alles, Garrick nennt sie „die beste Tragödin, die wir

haben”, möglich, Delany hat das gehört, und gehört das nicht zusammen, wie Mann und Frau zusammen gehören,

„der beste Prediger”, „die beste Tragödin, die wir haben”?

      Delany hat, ehe er Messiah hört, Susanna Cibber im

Theatre Royal als Tragödin gesehen. In den zwei Monaten, seit sie Messiah erstmals gesungen hat, ist He was despised ihr Stigma,

ihr Markenzeichen geworden, Delany hat davon gehört.

      Jetzt hört er, wie sie singt, ihr getragener, weindunkler,

herzergreifender Alt: „He was despised and rejected of Men,

a Man of Sorrows, and acquainted with Grief.” Largo.

Er war verachtet, abgelehnt von Menschen, ein Mann mit Sorgen,

ein Mann, der Kummer kennt.

      „He ave –” Das soll wohl „gave” heissen, das „g” hat

jemand von Hand ins gedruckte Textbuch hineingeflickt! „– he gave

his Back to the Smiters, and his Cheeks to them, that

plucked off the Hair, he hid not his Face from Shame and Spitting.”

Er hielt den Rücken hin, sie peitschten ihn aus, er hielt

die Wangen hin, sie rissen ihm das Haar aus, er verbarg sein

Gesicht nicht, sie spotteten und spuckten ihn an. Da Capo.


Anschlussfähig  

Die Messiah-Uraufführung im April verschiebt Händel

um einen Tag, weil Susanna Cibber indisponiert ist. Und indisponiert

ist Susanna Cibber im März schon mal gewesen. Die neue

Serenata genannt Hymen, liest Delany in Faulkner’s Dublin Journal, muss wegen plötzlicher Erkrankung von Mrs. Cibber auf

nächsten Mittwoch verschoben werden.

      Und drei Tage später: Mrs. Cibber befindet sich

auf gutem Weg zur Besserung. Und eine weitere Woche später

dann wieder: Da Mrs. Cibber weiterhin so krank ist,

muss die Serenata genannt Hymen

      Unter dem Titel Hymen will Händel Imeneo eine neue Chance

geben. He was despised. Was Delany zutiefst trifft, ist aber

etwas anderes. Susanna Cibber ist indisponiert gewesen, und

Delany weiss, was das heisst, auch er ist indisponiert

gewesen.

      Am 10. Dezember 1741 muss Dekan Owen einspringen,

Delany kann seine Predigt in der St. Andrew’s Cathedral

nicht halten, als dort Händels Te Deum, Jubilate gegeben und für

Mercer’s Hospital gesammelt wird.

      Aber dass Susanna Cibber und er, das ahnt Delany,

indisponiert gewesen sind, das ist wie bei Vollmond

sich ahnungslos verlieben, das verbindet, das zieht an, das macht

in der Seele verwandt, macht anschlussfähig.


Ein magischer Moment 

He was despised ist ein magischer Moment, denkt Ebelin.

Er verfolgt die Aufführung aus einer Seitengasse der Konzertbühne.

Der magische Moment hält an. Ebelin spürt ihn, als er

die Noten kopiert.

      Er spürt ihn, als er die Noten auf der Bühne verteilt.

In Händels Skizzenbuch hat er einen Titel entdeckt, Der arme

irische Junge, und immer hat er Händel mal fragen wollen,

was es damit auf sich hat, und immer versäumt er es wieder. Ebelin

weiss nicht mal, ob Händel den Folksong meint, The poor

Irish Boy. Oder etwas ganz anderes?

      Und Delany? Was geht in Delany vor? Er sieht, so oft

Susanna Cibber Händels Verzierung einbringt, den Messias jedes

Mal mit neuen Augen, wenn sie ihre Rolle neu erfindet,

jedes Mal anders, jedes Mal unmittelbar, jedes Mal ergreifend, als betonte sie den einen Satz jedes Mal neu.

      „He hid not his Face from Shame and Spitting, his Face

from Shame and Spitting, hid not his Face from Shame and

Spitting.” Starker Beifall, in den Delany einfällt, und

Sekunden zuvor geschieht es.

      Delany springt auf, er ruft in den Konzertsaal: „Woman, for

this I shall forever love thee!” Dann fällt er auf den Platz

zurück. Frau, dafür werde ich euch ewig lieben! Das ist, was Delany gerufen hat, Liebe sucht er, nicht Sünden.

      Er hat sich weit vorgewagt, das Textbuch ist ihm beim

Aufspringen zu Boden gefallen, er hebt es auf und hält es auf

den Knien, das Textbuch, gekauft in der New Musick

Hall, printed by George Faulkner, Dublin 1742.


Händels Nachbarin  

Spät hat die Liebe Delany erwischt, aber er täuscht sich

in der Liebe. Nicht Susanna Cibber, Händels Muse, ist es, die er

ewig liebt. Es ist Mary Pendarves, Händels Nachbarin.

      Sie ist längere Zeit in Dublin gewesen und das mehrfach,

sie kennt Delany, seine Villa, den grossen Garten.

Er hat sie in Swifts Zirkel kennen gelernt, Mary Pendarves, die Handschuhe trägt und für Irland bizarr lobende Worte

findet, die er nie mehr vergisst: “They make mighty good

gloves here.”

      Übers Jahr pilgert er nach London und hält schriftlich

um Mary Pendarves an, er schreibt an sie:

      Ein Mann, der eine Geisteshaltung hat, die eurer eigenen

nicht fremd ist, und der euch aus diesem Grund allein

nicht völlig unwürdig ist – ein Mann, der sich bewusst ist, was ihr

wert seid, der euch verehrt in allem, wo er etwas

zu verehren fähig ist, das sterblich ist, kann euch in eurer

ergebenen und uniridischen Weisheit nicht völlig

zuwider sein.


Ihr Libretto vertont er nie

Frühsommer 1743 heiraten sie. Im Jahr drauf schreibt sie

das Paradise Lost-Libretto, das Händel nie vertont.

Als Mädchen hat die geborene Mary Granville bereits Händel

getroffen. Sie schreibt:

      In dem Jahr, als ich zehn war, sah ich Mr. Händel, der

bei meinem Onkel von Mr. Heidegger eingeführt wurde. Wir hatten

kein besseres Instrument im Haus als mein kleines Spinnet,

auf dem der grosse Musiker wahre Wunder vollbrachte.

      Ich war erschlagen von seinem Spiel, aber erschlagen

wie ein Kind, nicht wie ein Experte, und kaum war er gegangen,

setzte ich mich selbst an mein Instrument und spielte

die Lektionen, die ich am besten gelernt hatte.

      Und mein Onkel foppte mich und fragte, ob ich denn

glaubte, ich könnte je so gut spielen wie Mr. Händel.

„Glaubte ich nicht, ich könnte es”, rief ich, „so würde ich mein

Instrument verbrennen.” So gross waren Unschuld und

Anmassung in meiner kindlichen Ignoranz.

      Ihr Bruder ist Bernard Granville, Mary und ihre Schwester

Ann nennen ihn Bunny. Er ist es, der den Kunstsammler Händel

mit einer Rembrandt-Landschaft versorgt.

      Aber Bunny ist gegen die Heirat, er hält sie, da Delanys

Vater nur Diener gewesen ist, für unter Stand.

Und Händel? Er hat 1735 die früh verwitwete Mary Pendarves

mitsamt Schwester und Freundin zur Alcina-Probe in

seine Wohnung eingeladen.


Without Hoops

Als Händel in der Passionswoche, genau fünf Tage

vor Ostersonntag, Messiah aus der Taufe hebt, liest Delany

in Faulkner’s Dublin Journal:

      Viele Ladies und Gentlemen, die der noblen und

grossartigen Wohltätigkeitsveranstaltung, zu der das Oratorio

komponiert worden ist, wohlgesinnt sind, werden um den

Gefallen gebeten, dass die Ladies, die diese Aufführung mit ihrer

Anwesenheit würdigen, gebeten werden ohne Reifenröcke

zu kommen, da dies die Wohltätigkeit erhöht, indem es Platz

schafft für mehr Gesellschaft.

      Da capo! Die Charitable Musical Society ersucht die Ladies

to come without Hoops, ohne Reifenröcke. Hoops sind

raumergreifend und ausladend, das Gegenteil der small clothes,

der knappen Kleider, die einladend und in London zu

sehen sind, wenn Peg Woffington in Männerkleidung die Bühne

im Drury Lane Theatre betritt. The excellent Peg

Who showed such a leg!

      Ausserdem ersucht die Charitable Musical Society

die Gentlemen to come without their Swords, ohne

ihre Schwerter, und enthebt Männer von Rang und Mode ihrer

Gewohnheit das Schwert zu tragen und mit ihrem

aggressiven Gebaren friedlichen Dubliner Bürgern den Schauder

des Duellierens einzujagen.

      Drauf fügt Faulkner’s Dublin Journal fanfarengleich

hinzu: This day will be performed Mr. Handell’s new Grand Sacred

Oratorio called The Messiah.

      The Messiah schreibt Faukner in seinem Journal,

nicht einfach Messiah, wie es im Textbuch steht, das er doch

selber druckt. Der Eintritt beträgt eine halbe Guinea,

und als die Uraufführung zwölf Uhr mittags beginnt, sind der

Statthalter, der Erzbischof von Dublin und mehrere

Dekane des Trinity College im Publikum, ohne Hoops, ohne Swords gehen siebenhundert statt sechshundert Besucher in die

New Musick Hall, die Sänger verzichten auf Gage.


400 Pfund kommen zusammen 

Messiah wird am 3. Juni 1742 wiederholt,

an beiden Aufführungen kommen vierhundert Pfund zusammen,

je ein Drittel geht an die Gesellschaft für Haftentlassene

diverser Schuldgefängnisse, an die Fürsorgekrankenstation am Inns Quay und ans Mercer’s Hospital an der Stephen’s Street.

      Das neue Grosse Geistliche Oratorio wiederholt Händel

in leicht veränderter Besetzung:

      Sopran Signora Christina Avoglio (manchmal schreibt

Händel auch Avolio), und Mrs. Maclaine (die Ehefrau

des Organisten Maclaine, die Händel in Chester engagiert

hat, als er auf der Reise nach Dublin einen unfreiwilligen

Zwischenhalt macht). Counteralt (Mezzosopran & Alt) Mrs. Susanna

Cibber

      (ihr gibt Händel drei Arien, sie hat auch die letzte Arie,

das Finale, das dem wichtigsten Sänger, The Leading Singer,

vorbehalten ist, sie ist Händels Muse),

      und Mr. William Lamb. Tenor Mr. James Baileys und

Mr. Ward (er ersetzt den prominenten, bei der Uraufführung eingesetzten Mr. John Church). Und Bass Mr. John Hill

und Mr. John Mason.


Ein Klub von Fidlern  

Beteiligt sind die sechzehn Männer und sechzehn Knaben

umfassenden Chöre von St. Patrick’s Cathedral und Christ Church,

die der Dekan Swift zuerst nicht hergibt. Was Swift dazu

zu Papier bringt, ist die Feststellung:

      Und da berichtet wurde, ich hätte gewissen Vikaren

die Erlaubnis erteilt, in einem Klub von Fidlern an der Fishamble

Street mitzuwirken, so erkläre ich hiermit, dass ich mich

nicht erinnere eine solche Erlaubnis je unterschrieben oder

versiegelt zu haben.

      Das schreibt Swift, der Dekan, gestochen scharf in der

Wortwahl, als sei wieder mal Swift, der Autor, am Werk. von dem

der Drucker und Verleger Richardson, der schlaue Fuchs,

Gulliver’s Travels vor fünfzehn Jahren sofort nachgedruckt hat, in gekürzter Fassung.

      „Oh! Ein Deutscher! Und ein Genie! Ein Wunder!

Lasst ihn herein!”, sagt Swift, fünfundsiebzig und schwerhörig,

zu seinem Diener, als er endlich versteht und Händel

zuletzt empfängt.

      Am Ende seines neunmonatigen Gastspiels in Dublin

bedankt sich Händel beim Dekan für die Überlassung

der Sänger der St. Patrick’s Cathedral, deren Mitwirkung Swift

zuerst verbietet. Die Szene hält in ihren Memoirs Laetitia

Pilkington fest, die Delany in London mal um Geld angeht, als sie

Schulden zu bezahlen hat.

      Delany setzt als Zahlmeister Richardson ein,

und der Drucker und Verleger gibt zu den zwölf Guineas

noch zwei eigene hinzu. „Seid ihr nicht der Autor von Pamela?”,

fragt Laetitia Pilkington, die seinen Roman gelesen hat.

„Ich bin der Herausgeber”, sagt Richardson.


Seen of Angels 

God was seen of Angels, liest Delany. Gott ist Engeln

erschienen. Delany liest das im Textbuch, blickt auf unter dem

Applaus und sieht, wie Händel mit grosser Geste auf

Susanna Cibber verweist, die linkisch einen Schritt vortritt und

sich mit tief gesenktem Kopf verbeugt.

      Und wieder nimmt Delany das zugeklappte, kleine, schmale,

in der Schnurbindung eilig zusammengeknüpfte Textbuch

in dem üblichen, mattblauem Deckblatt zur Hand, und wieder

bleibt sein Blick auf dem Titel, auf dem Deckblatt hängen.

Messiah. An Oratorio. Compos’d by Mr. Handel. Majora Canamus.

Lasst uns von grösseren Dingen singen.

      Delany kennt das. Es ist aus dem Hirtenlied von Vergil.

Das Zitat ist der Türöffner. Und dann erst folgt auf dem Titel,

auf dem Deckblatt das Zitat, das Delany, den Geistlichen,

angesprungen hat.

      And without Controversy, great is the Mystery of Godliness:

God was manifested in the Flesh, justified by the Spirit,

seen of Angels, preached among the Gentiles, believed on in the

World, received up in Glory. Und ohne Kontroverse,

gross ist das Mysterium der Göttlichkeit: Gott hat sich manifestiert

im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, ist Engeln

erschienen, gepredigt worden unter Heiden, geglaubt

in der Welt, aufgenommen in Herrlichkeit.

      Neues Testament. Briefe des Paulus. Erster Brief

des Timotheus. Aber jetzt folgt, und das ist neu, dran angefügt

der Satz: In whom are hid all the Treasures of Wisdom

and Knowledge. Worin verborgen sind alle Schätze von Weisheit

und Wissen.


Kein Ticket an der Tür

Brief der Kolosser. Jennens, der Librettist, hat die drei

Zitate als Messiah-Vorspruch Händel nach Dublin nachgeschickt.

Und Händel hat sich dafür bedankt, am 29. Dezember 1741

schreibt er an Jennens:

      Die Zeilen, die ihr mir freundlicherweise zukommen

liesset und die als Vorspruch zu eurem Oratorio Messiah, das ich

vertont hab, ehe ich England verliess, vorangestellt

werden sollen, bereiteten mir als Fortsetzung eurer Freundlichkeit

grösstes Vergnügen.

      Die grosszügige Anteilnahme, die ihr an meinen

Geschäften zu nehmen beliebt, ermutigt mich euch von dem

Erfolg, den ich hier habe, Bericht zu erstatten.

      Der Adel erwies mir die Ehre eine Subskription für sechs

Abende bei sich durchzuführen, was einen Raum von sechshundert Personen füllte, sodass ich kein einziges Ticket an der Tür

zu verkaufen brauchte.


Eine Subskription. Sechs Entertainments.

Faulkner’s Dublin Journal hat Delany entnommen,

Mr. Händel sei am 14. Dezember und den nachfolgenden Tagen

bereit Subskriptionen für die sechs Entertainments in

der New Musick Hall an der Fishamble Street von neun Uhr morgens

bis zwei Uhr nachmittags in seinem Haus an der Abbey

Street, Nähe Liffey Street, entgegenzunehmen.

      Weiter schreibt Händel an Jennens:

      Und ohne Eitelkeit, die Aufführung fand allgemein Zustimmung.

Signora Avoglio, die ich aus London mitgebracht hab,

gefällt ausserordentlich. Ich hab eine andere Tenorstimme herangezogen, die sehr befriedigt.

      Die Bässe und Countertenöre sind sehr gut. Und der Rest

der Chorsänger macht es (unter meiner Leitung) äusserst gut. Und

was die Instrumente angeht, so sind sie wirklich exzellent.

Mr. Dubourg ist ihr führender Kopf.

      (Matthew Dubourg, der musikalische Leiter der King’s Band,

ist Master of State Music in Irland seit 1728.)

      Und die Musick tönt herrlich in diesem charmanten Raum,

der mich in solche Laune versetzt und meine Gesundheit derart beflügelt, dass ich mit ungewöhnlichem Erfolg auf

meiner Orgel spiele.


Ehre. Profit. Und Vergnügen  

Ich hab mit dem Allegro, Penseroso & Moderato eröffnet,

und ich versichere euch, dass die Worte des Moderato gewaltig bewundert werden.

      Das Publikum setzt sich, von der Blüte der Ladies

von Rang und anderen Leuten der Oberschicht abgesehen,

aus so vielen Bischöfen, Dekanen, College-Rektoren

(Händel meint das Trinity College.) usw. zusammen, die von

der Poesie alle sehr angetan sind, sodass ich gebeten

werde, es nächstes Jahr wieder aufzuführen.

      Ich kann die freundliche Behandlung, die mir hier zuteil wird,

nicht genug zum Ausdruck bringen. Da die Freundlichkeit dieser grosszügigen Nation euch aber nicht unbekannt ist,

überlasse ich euch die Beurteilung der Befriedigung, die ich geniesse, indem ich meine Zeit in Ehre, Profit und Vergnügen verbringe.

      Bereits schlagen sie, wenn die sechs Abende der

Subskription vorbei sind, einige weitere Aufführungen vor (Händel beginnt die zweite Serie seiner Aufführungen an der

Fishamble Street am 17. Februar 1742.).


Mein Lord Duc, der Statthalter  

Und Mein Lord Duc, der Statthalter, der mit seiner ganzen

Familie (Duke und Duchesse of Devonshire laden in einer Anzeige

in der Zeitung persönlich zur Aufführung von L’Allegro, il

Penseroso ed il Moderato ein.) bei allen diesen Abenden immer anwesend ist, wird bei Ihrer Majestät für mich leicht

eine längere Erlaubnis erhalten, sodass es mir möglich sein

wird, meinen Aufenthalt hier länger zu gestalten,

als ich ursprünglich gedacht hab.

      Händel hat Messiah in drei Wochen komponiert,

„angefangen den 22. August 1741”, schreibt er im Autograph

auf deutsch und stellt das astrologische Zeichen der Lilith voran.

      Er beendet Teil I „August 28 1741”, vor der Jahreszahl

fügt er das astrologische Zeichen der Venus ein,

Teil II „Septemb 6 1741”, und diesem Datum stellt er

das astrologische Zeichen der Sonne voran.

      Aber es sieht so aus, als hätte Händel Messiah für eine

Aufführung in London komponiert, denn anschliessend komponiert

er bis 29. Oktober 1741 Samson für Flöten, Hörner

und Trombonen, die in London verfügbar sind, nicht in Dublin.

      Noch glaubt Händel die nächste Saison für London

vorzubereiten, Dublin ist eine von mehreren Optionen, nicht erste

Wahl. Händel ist gerade dabei Messiah fertigzustellen,

als am 7. September 1741 durch die Londoner Presse geht:

      We hear from Italy! Wir hören aus Italien, die

berühmte Sängerin Cuzzoni sei von der Todesstrafe bedroht,

wegen Vergiftung ihres Ehemanns!

      Die Einladung nach Dublin kommt vom Statthalter von Irland,

William Cavendish 3rd Duke of Devonshire. Er hat sie

im Frühjahr persönlich überbracht. Plötzlich, im Spätherbst, reist

Händel überraschend schnell ab.

      Er reist über Chester und Holyhead und trifft am 18.

November 1741, drei Wochen, nachdem er Samson fertigstellt

hat, in Dublin ein. An der Abby Street, Nähe Liffey Street,

mietet er ein Haus. Es ist die erste Konzertsaison der New Musick

Hall, zu der Händel nach Dublin eingeladen wird.


Der Architekt. Sein eigenes Geld.

Er eröffnet am 23. Dezember 1741. Er gibt L’Allegro,

il Penseroso ed il Moderato, zwei Concertos für mehrere

Instrumente und ein Orgelconcerto, superior to

anything of the kind in this kingdom before, wie er drauf

der Zeitung entnimmt.

      Der Architekt des Neubaus an der Fishamble Street ist

William Neal, der zugleich Schatzmeister der Charitable Musical

Society ist und zur Realisierung des Neubaus auch

eigenes Geld in die Hand nimmt.

      Händel bespielt die neue Konzerthalle mit L‘Allegro,

il Penseroso ed il Moderato, Acis and Galatea, Ode for St.

Cecilia‘s Day, Messiah, Esther und Saul.

      Und Delany, der soeben in Messiah dazwischen

gerufen hat? Was weiss Delany? Er ist nicht auf

der öffentlichen Messiah-Probe, er ist nicht bei der Messiah-

Uraufführung gewesen, aber er liest Faulkner’s Dublin

Journal, und darin liest er:

      Gestern wurde Mr. Handell’s neues, grandioses,

sakrales Oratorio, genannt The Messiah, vor höchst bedeutendem,

höflichem, dichtgedrängtem Publikum geprobt und

zur umfassenden Befriedigung aller Anwesenden aufgeführt.

      Die elegante Unterhaltung wurde in so geregelter

Art geleitet, dass selbst die Experten zugeben mussten,

es handle sich um das feinste, vollendetste Musikstück und

übertreffe in dieser Gattung bei weitem alles, was

in diesem oder jedem anderen Königreich je aufgeführt wurde.

      Das exquisite Vergnügen zu beschreiben, das es dem

bewundernden, dichtgedrängten Publikum bereitete,

fehlen die Worte. Feinheit, Grossartigkeit und Zärtlichkeit,

angewandt auf die erhabensten, majestätischsten,

bewegendsten Worte, verschwören sich um Herz und Ohr

zu bewegen und zu erheben.


Trunken macht die Musik ihn  

Wieder öffnet Delany das Textbuch, blättert und stösst,

ohne zu suchen, auf die Stelle mit den vom Setzer

vergessenen, mit Zusatzpapier eingeklebten Zeilen in Teil II,

die ganz nach der Art von Fehler aussieht, wie er in der

Hektik des Tagesgeschäfts unterläuft.

      Das Rezitativ: Unto which of the Angels said

He at any Time, thou art my Son, this Day have I begotten

thee? Zu welchem Engel hat er jemals gesagt: Ihr

seid mein Sohn, heute habe ich euch gezeugt? Der Chor:

Let all the Angels of God worship him. Lasst alle Engel

Gottes ihn lobpreisen.

      Mein Sohn, welcher Engel. Der Engel ist männlich.

Delany ertappt sich dabei, dass er aus dem männlichen Engel

einen weiblichen gemacht hat. Trunken macht die

Musik Delany. Das Wiegende, sich höher Schaukelnde.

Der Chor, die Solisten.

      Delany überfliegt die Zeilen nochmal, blickt auf und sieht

in seinem inneren Auge, wie Susanna Cibber mit tief gesenktem

Kopf sich im Applaus verbeugt, das schöne, lange, schwarze

Haar schüttelt und zu Boden fallen lässt, sich wieder

aufrichtet und ins Glied zurücktritt, er hat es im Kopf gespeichert.

      Nichts soll vergessen werden, denkt er. Und jetzt,

auf einmal, im Gegenlicht der Sonne, die in den rappelvollen

Konzertsaal einbricht, sieht er die Angels, sie sind

weiblich, er ist bestätigt und erlöst. She’s the greatest of all

Angels, denkt er.

      Aber wie um sich zu vergewissern, blickt er nochmal

auf die Stelle hin, und da, im grellen Licht der Sonne, ist der Text

weg, verschluckt im überhellen Flimmern, und ungeduldig

wie ein Kind flippt er im Textbuch voraus zum Schluss: ...for ever

and ever. Amen. End of the Oratorio.


So nah kommt er der Bibel nie mehr 

Es ist Ebelin, der den Setzer durch die verspätete

Ablieferung des Textes in solche Hektik gebracht hat. Aber

er selbst verfolgt gelassen die letzte von Händels

Aufführungen in Dublin. Er steht da mit dem sichtlichen

Stolz des Mitarbeiters, der genau weiss, dass

er gerade einem Ereignis der Musikgeschichte beiwohnt.

      Vielleicht, denkt Ebelin, liegt es an Dublin, am

ungewohnten Ort, dass die Aufführung ein Testament ist,

ein Vermächtnis.

      Das von Matthew Dubourg geleitete Orchester besteht

nur aus Streichern, zwei Trompeten und Pauken, aber in der

Intimität des Raumes holt Händel, der seine eigene Orgel

nach Irland hat transportieren lassen, mit seinem starken Anschlag

aus Orgel und Cembalo mehr heraus, als in der Laune

der Tasten und Saiten sein kann.

      Messiah ist so nah an der Bibel dran, so nah kommt

Händel in späteren Aufführungen an die Bibel nie mehr heran,

es ist Schlichtheit in der Gewaltigkeit, es ist Grösse

in der Kleinheit.

      Dabei ist Ebelins Blick auf Dubourg gerichtet, den ersten

Geiger, Händels Konzertmeister, und dummerweise fällt

Ebelin die Geschichte ein, die er nach der öffentlichen

Messiah-Probe irgendeinen Wichtigtuer im Freundeskreis hat

erzählen hören:

      Endlos dreht und wendet sich Dubourg bei einer Verzierung

seiner Soloimprovisation und als er endlich zum

musikalischen Hauptmotiv zurückfindet, sagt Händel gut hörbar

für das Publikum, das mit zustimmendem Applaus reagiert:

„You are welcome home, Mr. Dubourg.”

      Ebelin weiss, die einzige, von Händel in Messiah notierte

instrumentale Verzierung ist das Triller-Zeichen, und genauso weiss Ebelin auch, das Triller-Zeichen steht bei Händel nicht

nur für einen Triller, es steht für jede Verzierung, wenn sie dem Zusammenhang angemessen ist.

      In Messiah schreibt Händel etwa in He was despised

einen Triller vor, und im Halleluja hat Ebelin den einzigen Triller

in einer Chorstimme gesehen, aber er weiss, die

Ausführung eines Trillers erwartet Händel auch dort, wo er ihn

nicht ausdrücklich vorschreibt.


Himmlisch leuchtet  der Chor

Schlag auf Schlag geht es jetzt, eine solche Wucht

hat selbst Ebelin noch nicht erlebt, in einer knappen Viertelstunde

alles. Irdisch greift der Bass mit der Arie How art gone up

das Gelände aus, der Chor The Lord gave the Word leuchtet aus

der Entfernung himmlisch zurück.

      Drauf heben Soli und Chor mit How beautiful are the feet

im Auf und ab die Stimmung nochmal scharf an,

gleichwohl überbietet sie die quirlig mit Musik eingeführte Arie,

die der zweite Bass mit Why do the nations hineinwirft.

      Drauf schwingt der Chor sich auf mit Let us break,

zwanzig Sekunden flackert das Rezitativ He that dwelleth, und

mächtig setzt drauf der Chor mit dem Hallelujah ein und

trägt endgültig alles fort.

      Es ist das Abheben, das Ebelin liebt, Händel ist erpicht

darauf, der Stadt mit etwas zu gefallen, das einen

fröhlicheren Dreh hat, Händel beharrt auf einer Aufführung,

die an der Welt rüttelt und rückt, wenn sie nicht gar aus Konzertbesuchern bessere Menschen macht.

      Das geht bis hin zu der Geschichte, in der George

Henry Hay 8th Earl of Kinnoull, Händel zu „the noble

Entertainment” von Messiah in London gratuliert, und Händel

sagt: „I should be sorry if I only entertained them. I wished

to make them better.”

      Es ist die Offenbarung Johannes, die Jennens collagiert,

und bei der Wiederholung in Dublin wird es Händel

a little eery, ein wenig unheimlich, als er im intimen Raum der

New Musick Hall noch eins zulegt.

      Es ist ihm aufs Mal, als wackelten die Wände unter

den Schlägen der Pauken, unter den Fanfarenstössen

der Trompeten, die das künftige Goldene Zeitalter einleiten, in dem

in der ganzen Welt Frieden herrscht und, wie Pope das 1712

in seinem Gedicht Messiah andeutet, die Völker der Barbaren ihre

Reichtümer England als Geschenk darbringen.


Halleluja! for the Lord God Omnipotent reigneth

Händel macht von der Praxis der Anleihen in Messiah

kaum Gebrauch, allenfalls verlässt er sich auf die Kunst des

Selbstzitats. Das Libretto hat Jennens aus Originalbibeltext

montiert, Hallelujah inbegriffen.

      Hallelujah! for the Lord God Omnipotent reigneth,

The Kingdom of this World is become the Kingdom of our Lord

And of his Christ; and He Shall reign for ever and ever,

King of Kings, and Lord of Lords. Hallelujah!

      Hört Delany noch zu? Sinkt er weg? Springt er auf?

Es ist gewaltig, und es ist schön: Hallelujah! denn der Herr Gott

regiert omnipotent. Hallelujah! Das Königreich dieser

Welt ist zum Königreich unseres Herrn und seines Christus

geworden. Und Er soll regieren auf immer und ewig,

König der Könige, Herr der Herren. Hallelujah! Ende Teil II.

      Zu Messiah gibt Händel Concertos on the organ,

es ist die letzte Vorstellung während seines Aufenthalts in diesem Königreich, schreibt Faulkner’s Dublin Journal.


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