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MARKT (LESEPROBE III)


         

              Fritz Hirzel, Fossil. Roman. 234 Seiten. Zürich 1994.


Er sah Astrid noch einmal, an einem Samstagmorgen,

zwischen Auslagen mit Früchten und Gemüse auf dem Marktplatz

Oerlikon, wo er mit Lisa und Alex gerade einkaufte. Er stand

etwas abseits, Lisa hatte an einem der Marktstände nach Tomaten

gefragt, italienischen Freilandtomaten. Es war April geworden.

Er hatte von Astrid nichts mehr gehört, seit sie nach Erlangen

umgezogen war. Seit ihrer Scheidung waren drei Jahre vergangen.

      „Ich hab nie eine Heiratsanzeige von dir bekommen.“

      „Ich hab nicht geheiratet.“

      „Aber –“ Er stand da, in einer Hand die Einkaufstasche,

in der andern die Blumen, rosafarbene, in Seidenpapier gehüllte

Blumen. Er hatte immer einmal Kamelien kaufen wollen,

Kamelien für Astrid. Nun hatte er sie für Lisa gekauft. „– aber du bist

noch zusammen mit ihm?“

      „Mit Elmar, meinst du? Nein.“

      Sie sah blendend aus. So frei, so unabhängig. Sie hatte

strahlende Augen.

      „Und du? Du bist nicht mehr in der Gruft?“

      Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich hab mich befreit.“

      Aber in diesem Augenblick trat Lisa hinzu.

      „Darf ich dir –“ Lisa reichte ihm die Tüte mit den Tomaten,

die sie gekauft hatte. „– darf ich dir Astrid vorstellen?“

      „Tja“, sagte Astrid. „Hallo, Lisa.“ Aber sie gab Lisa nicht

die Hand.

      „Kommt ihr endlich“, rief Alex, der hinter Lisa hervortrat,

grossgewachsen, wie er jetzt war, mit Mami und Mamis zweitem

Mann bei Markteinkäufen.

      „Und das – das ist Alex, mein Sohn“, sagte Lisa.

      Astrid lachte. „Ihr müsst mich entschuldigen. Ich bin schon

zu spät.“

      Hengartner hatte ihr sagen wollen, wie gut sie aussah,

wirklich gut, aber da war sie schon auf dem Weg zu einer Tagung

oder einem Kongress, der im Hotel International stattfand.

      „Was für ein Zufall.“ Hengartner war wirklich gerührt.

      „Ja“, sagte Lisa. „Was für ein Zufall.“

      So machten sie sich mit ihren Einkäufen auf den Heimweg,

Lisa an Hengartners Seite, schweigend, die Blumen jetzt in ihrer

Hand, bis Alex in der Bahnhof-Unterführung fragte:

      „Wer war denn das?“

      „Meine Frau“, antwortete Hengartner. „Meine erste Frau.“


                                   Es war früh am Abend, als Hengartner

beim Durchblättern des TagesAnzeiger das Foto eines

jungen Mannes sah, nach dem im Zusammenhang mit einem

Einbruch gefahndet wurde, bei dem ein Ladeninhaber

erschossen worden war. Das Gesicht kam Hengartner seltsam

bekannt vor. Aber noch mehr erstaunt war Hengartner,

als er den Namen unter der Foto las: Loretan, Kurt Loretan. Er war

nicht Schreiner geworden, wie seine Mutter gehofft hatte.

Er hatte seine Lehre abgebrochen. Loretan war's gewesen, der

Hengartner einen der Vorderzähne aus dem Gebiss

geschlagen hatte.

      „Das gibt's nicht“, sagte Hengartner. Er war so befreit,

befreit und geborgen im Augenblick. Er hatte Astrid gesehen, so

frei, so unverletzt. Und er selbst? Er war der erste gewesen,

dem Arpagaus bei der Fernsehillustrierten gekündigt hatte,

nachdem er vom Verwaltungsrat zum Chefredaktor ernannt worden

war. Das Glück des Ausbrechers? Sah so das Glück des

Ausbrechers aus? Die Umstände waren vernichtend. Er hatte

gestempelt. Er war selbst einer der Arbeitslosen geworden,

die er sich stets hatte fernhalten wollen, Er hatte seine

Bewerbungsunterlagen da und dort und bald überall eingereicht

und Absagen erhalten, und nach zwei Jahren war er

ausgesteuert worden.

      Hengartner hatte seine Wohnung am Stauffacher aufgegeben.

Er wohnte jetzt mit Lisa hinter dem Bahnhof Oerlikon in dem

Neubau, der die Heimat ersetzt hatte, im gemeinsamen Haushalt.

Es war Lisa gewesen, die darauf bestanden hatte. Sie hatte

Hengartner nie gesagt, was sie an jenem Mittag mit Arpagaus

gemacht hatte. Und Hengartner hatte Lisa nie danach gefragt.

      „Das gibt's nicht“, sagte er noch einmal, wie zu sich selbst. Und

gerührt, erstaunt zu Lisa, die ein wunderbar duftendes,

noch ein ganz klein wenig warmes Apfelbrot an den Tisch brachte:

      „Von wem hast du das Rezept? Von Rosemarie?“

      „Nein, sie von mir.“

      Wie hatte Astrid gesagt? Wenn die Herzlinie und die Kopflinie

eins sind, wirst du entweder ein Krimineller, ein Idiot oder

ein Heiliger. Was war Hengartner nun? aus den Linien seiner Hand

gelesen, was war er nun, im Fazit seines Lebens? ein

Krimineller? ein Idiot? oder ein Heiliger? Aber war das nicht ein

Vexierspiel? Er war nicht entweder dies oder jenes –

er war alles und nichts in einem, er hatte in sich jede der drei

Rollen, jederzeit, ein Heiliger, ein Idiot, ein Krimineller –

die Rollen bedingten sich gegenseitig. Er war nichts nur allein,

er war alles zusammen.

      „So einfach ist also das Leben?“, sagte Hengartner,

dann schwieg er eine Weile. Er hatte nichts getan. Er war nur

der Spur des Apfelbrots gefolgt.


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