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GREGOR
Fritz Hirzel, Gregor. Fortschreiben. 99 Autoren
der deutschen Schweiz. Herausgegeben von Dieter
Bachmann. Artemis. Hardcover. Zürich 1977
Zur Hälfte stand der Kastenwagen auf dem Trottoir,
das hinter dem Mopedgeschäft um die Ecke lief. Die Strassenlampe
schaukelte im Nachtwind auf und ab. Schräg gegenüber
lag Jacky‘s Bar, die Neonschnörkel sirrten an der Hausfassade.
Ein Mann trat hustend aus der Türe. Er schleppte sich zur
Ecke, indem er mit dem einen Fuss leicht einsackte, stieg in den Kastenwagen und fuhr mit ihm davon. Das Trottoir war
so verlassen, dass man die Strassenlampe schaukeln hören
konnte. Entlang der Häuserzeile, die durch eine
Baustelle unterbrochen war, ging niemand ausser Gregor.
Und dieser ging nicht, sondern lief.
Vor dem Mopedgeschäft hielt
er an, schaute um sich, trat, um auszuschnaufen,
in den Hauseingang, in den von Zeit zu Zeit der Schein der
Strassenlampe fiel. Im Dunkel stiess er mit dem Fuss
an eine Bierflasche, die klirrend über den Boden rollte und ihn
erschreckte, als sie an die Wand schlug.
Er hatte keine Fehler machen wollen, was Stunde
und Apotheke anging, sich an das gehalten,
was Anderer ihm aufgetragen hatte. War es denn seine Schuld,
wenn es nicht klappte? Wäre Anderer, so wie
er ihn kannte, und er musste sich eingestehen, er kannte ihn
zusehends weniger, an seiner Stelle nicht genauso
abgehauen? Er müsste es ihm erklären können, doch
Anderer war nicht da Und später würde er nicht hören
wollen, warum es schiefgegangen war. Später genügten die
Tatsachen. Die boten, schien es, Grund genug, sich
von ihm abzuwenden. Hörte er nicht schon das Räuspern der
Ungeduld? sah er nicht Händereiben? Anderer würde
dazu bloss lachen, ihm ins Gesicht lachen, als hätte er gewusst,
von Anfang an gewusst, dass es so kommen musste.
Das Licht der Strasse fiel ihm in den Rücken.
An der Klingeltafel sah er die Namensschilder, ungezählt und
schmierig wie die Apartmentzimmer, auf die sie
unglückselig hinzuweisen schienen.Die Schaukästen waren
geräumt. Er hatte das Gefühl, dass sie vermoderten.
Dann lag der Gang erneut im Dunkel.
Er hatte kaum noch Luft zum Stehen.
Er beugte den Oberkörper zu den Abfallsäcken,
die zu einem Haufen aufgestapelt waren, und sank auf sie herab.
Endlich brachte er den Kopf hoch.
Er fand sich im Spiegel wieder, der zersprungen
ihm gegenüber hing. an den Rändern blind, in der Reklameschrift
verblasst, tastete nach seinem Kopf, der fleckig und
erloschen aussah, suchte die geschwollenen Lippen zu erkunden,
das klebrige, nasse Haar, das Blut am Ohr, das trocknete.
Schritte kamen. Eine Türe wurde
aufgerissen. Aus Jacky‘s Bar drang eine alte Joplinplatte,
rief verloren ein Gefühl der Freiheit, der leeren Hände wach, ein
sehr entferntes und doch genau noch zu erinnerndes.
Es war das Stück, das Anderer nach dem Urteilsspruch aufdrehte,
bis nur die Stimme da war und die Autobahn und alles
andere gleichgültig. Dann fiel in Jacky‘s Bar die Türe zu und
schnitt ihn ab.
Er drehte sich.
In seinen Rippen spürte er ein Stechen.
Er war abgehauen, ehe die Suchenden hereinbrachen
und ihn entdeckten, war durch das Fenster abgesprungen
und hatte die ganzen Ampullen, die ganzen Wundertüten liegen
lassen. Doch zur Kurzschlussangst, die überhitzt
gewesen war, kam eine kalte, andere hinzu, die ihm nun folgte
und die ihm sagte, dass er gescheitert war. Anderer
hatte keine Ahnung, wie es in der Apotheke wirklich aussah.
Hätte er gewusst, dass sie mit solchen Schikanen
gesichert war, er wäre gar nicht eingestiegen, zumindest nicht
allein. Er brauche nur die Türe einzustampfen, hatte
Anderer gesagt, dann stünde an der Wand der Rauschgiftschrank.
Die Türe war aus Leichtmetall, das hatte er vergessen
beizufügen.
Ein Geruch wie von Urin hing mit abgestandener
Bissigkeit im Finstern. In der Tiefe des Ganges sah er
eine Pfütze, die vor der abgesperrten Türe lag. Er rappelte sich
auf, so gut er konnte, humpelte am Mopedgeschäft
vorbei und schob sich weiter. Das Schaufenster war schmuddelig
und vollgestopft mit Zubehör.
Er erreichte die Baustelle und passierte sie.
Unbesehen.
An der Kreuzung blieb er stehen.
Eine Anlage, ausgebaut, die Autokolonnen mehrspurig
umzuwälzen, augenblicklich ohne Verkehr. Nirgends ein Fahrzeug,
nirgends ein Passant. Unwirklich drehten die Fahrspuren
sich hinauf zur Strassenrampe, die im Nachthimmel hing wie ein
Kanal, taghell im Licht der Tiefstrahler. Er stand nur da,
rieb sich die Hand.
Vermutlich hatte er sie noch verstaucht, so hatte
er gewuchtet und gestemmt, um die verdammte Türe
aufzubringen. Er stand im Gang zum Magazin, da hörte er die
Schritte, die sich draussen über den Hof bewegten,
Schritte, die unermüdlich jede Ecke abzusuchen schienen.
Erst glaubte er, man hätte ihn bemerkt, und suchte
seinetwegen. Dann nahm er deutlich eine Stimme wahr,
die Stimme einer Frau mit lockendem Getuschel, das
Rufen eines Namens, die wie Julie klang, aber der vermissten
Katze galt. Das alles mitten in der Nacht. Endlich hatte
er die Türe auf. Da war das Zittern wieder da. Er konnte nichts
dagegen tun. Ihm zitterten die Hände. Anderer machte
sich keine Vorstellung, wie an der Wand mit einem Schlag der
Schrank aufsprang und nebenan schon das Geläute
losging. Sie hatte ihn anscheinend doch bemerkt. Denn kaum
war sie aus dem Hof verschwunden, begann es an der
Seitentür zu poltern und zu rufen. Und da war auch die Stimme
eines Mannes da, der Schlüssel bei sich hatte.
Die Lichtsignale wollte er nicht sehen, floh treppab
in die Ebene der Fussgänger, die ihm die Schritte
nachtrug, damit er sich umdrehte und sah, wie lächerlich er war.
Auf der entgegengesetzten Seite kam er hoch, sah vorn
den Kastenwagen, der zur Hälfte auf dem Trottoir stand, ungefähr
auf der Höhe des Hauseingangs, gleich neben
der Tierhandlung.
Aus der Türe kam ein Mann, der hatte einen Sack
dabei. Er schleppte sich zum Wagen, indem
er mit dem einen Fuss leicht einsackte, riss den Verschlag
auf und verstaute der Reihe nach ein halbes
Dutzend Katzen, von denen jede fauchte und sich mit
ihren Krallen wehrte.