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28. JUNI 1968



               Fritz Hirzel, Erinnerungen an den 28. Juni 1968,

               Bau+Holz, Zürich, 8. und 30. Juni 1988


Es war Samstag, kurz vor Schul- und Semesterferien, das

Wetter sommerlich. Das Komitée hatte mit zahlreichen Helfern Demonstration und Vollversammlung vorbereitet.

      Gefordert war ein autonomes Kultur- und Jugendzentrum

in Zürich. Erstmals hatte es an einer Sitzung Thomy

ausgesprochen – gefordert war „der Globus“. Einmal bereits hatte

der Stadtrat das vom Warenhaus geräumte Areal zwischen

Hauptbahnhof und Central für eine Nacht bereitgestellt.

      „Hell Angels“-Tino hatte an der Vorbesprechung teilgenommen

– eine Toleranz-Probe für den Stadtrat, für den Stadtpräsident

Widmer (LdU), Finanzvorstand Bieri (FdP) und Sozialvorstand

Ziegler (SP) im Stadthaus erschienen. An der Sitzung war auch

Globus-Direktor Mahler anwesend, der die Jugendlichen

als seine „besten Kunden“ bezeichnete, die er bewirten würde,

wenn das Areal noch in seiner Hand wäre.

      Nicht nur Globus, auch Gessnerallee oder Bernhard-Theater

wurden als Veranstaltungsorte zunächst verweigert.

Schliesslich war es Bieri gewesen, der eingelenkt hatte. Während

Widmer und Ziegler sich noch immer an „feuerpolizeilichen“

Bedenken festklammerten, warf Bieri plötzlich Grundriss-Pläne

der Globus-Etagen auf den Tisch und fragte: „Wieviel

Platz braucht ihr denn?“

      Es war ein Fest geworden, eine Nacht mit Tanz, Musik und

Diskussion, eine Vollversammlung – aber es war nichts

passiert, was die Bedenken von Widmer und Ziegler erhärtet

hätte: kein Feuer, das im Gebäude, kein Krawall, der auf

der Strasse ausgebrochen wäre. Ein Komitée war gewählt

worden – zwei Dutzend Mitglieder, darunter ich.

      Nun war es wieder Samstag. Im Stadtrat hatte sich die

harte Linie durchgesetzt. „Wehret den Anfängen!“ forderte ein

NZZ-Titel. Der leerstehende Globus war geschlossen,

im Inneren des Gebäudes Polizei stationiert. die auf dem Trottoir

hinter Sperrgittern Stellung bezog. Auf der Strasse fand sich

die Menge zusammen, der Trambetrieb auf der Bahnhofbrücke

war unterbrochen.

      Was der Stadtrat als Ersatz angeboten hatte, war

ein schlechter Witz gewesen. Eine Baubaracke draussen beim

Brunnenhof hatte Widmer zur Verfügung gestellt und in

einem Radio-Interview gesagt: „Dort können sie ja zeigen, was

für tolle Henkel sie sind.“

      Inmitten der Ansammlung, mit Megaphon im offenen 2CV,

versuchte Renè – nonchalant, mit Witz, in Basler Dialekt

auszuführen, was ihm vom Komitée übertragen worden war:

die Demonstration über das Central zur Sechseläutenwiese

zu bringen, wo die Vollversammlung stattfinden sollte.

Auf dem Balkon des Du Nord hatte sich mit Lautsprecher

Polizeidirektor Bertschi installiert, der unter Gejohle

in die Menge herabkommandierte.

      Trotzdem gelang es, die Demonstranten Richtung Bellevue

und Sechseläutenwiese in Gang zu bringen. Bereits

hatte ein Teil der Demonstranten das Central passiert und

entfernte sich Limmatquai aufwärts, als die Polizei

beim Globus mit Wassereinsatz begann und erste Scharmützel

folgten.

      Um halb acht, am Bellevue, hatte Polizei die

Sechseläutenwiese abgesperrt – die Strasse, die Tramgeleise

waren voller Demonstranten, der Verkehr lahmgelegt.

Viele Neugierige. Die Stimmung – einmal launig, handkehrum

aggressiv – war auf der Kippe. Das Kino Bellevue, das ein Vampyrfestival im Programm hatte, liess die Abendvorstellung

ausfallen. Am Eingang war der Rollladen heruntergelassen.

Ich hatte mich dem Einsatzleiter am Bellevue als Mitglied des

Komitées zu erkennen gegeben und vorgeschlagen,

jetzt doch die Sechseläutenwiese freizugeben – „Sauhund“ bekam

ich zu hören und wurde mit einem Wasserschlauch voll

ins Visier genommen.

      Szenen auf der Quaibrücke. Ein Feuerwehrwagen war

vorgefahren. Jugendliche hatten im Eiltempo den Schlauch aus

der Winde gerollt und in die Limmat geworfen. Ein um sich

schlagender Feuerwehrmann, das Beil in der Hand. Am Bellevue

Bierflaschen, die flogen. Pflastersteine. Angst, Frustration.

In der Menge die Parole: Zurück zum Globus!

      Die Polizei, die hinter Sperrgittern beim Globus postiert

war. Ausfälle, Verhaftungen, Pöbeleien. Vor dem Hauptbahnhof

die Baustelle für das Shopville, für die U-Bahn. Ein junger

italienischer Arbeiter, der aus dem Hauptbahnhof gekommen war

– verhaftet, im Polizeigriff fortgeschleppt. Es war ein

einzelner Polizist, ich fragte ihn nach seiner Dienstnummer

– erst ihn, dann die Kollegen, die an der Stelle die

Polizeisperre bildeten, wo er mit dem Verhafteten passierte.

      Ich fragte einmal, zweimal. Dann packten sie zu

und brachten mich in den Globus, in die Parkgarage im

Kellergeschoss. Der Italiener lag am Boden – eine Wasserlache,

ein Sandhaufen, der Kopf, Polizisten, die nach ihm traten.

Andere, die um mich herum standen. „Brille ab!“ – „Der Sauhund,

der ist es gewesen!“ Ein Zivilbeamter holte mich heraus,

brachte mich zum Transportwagen – Hubatka, der Kripochef.

Lange war ich nicht allein. Die Türe wurde aufgesperrt,

der Italiener nachgeschoben, dann ein angetrunkener alter Mann.

      Hauptwache. Spiessrutenlaufen. Eine der Zellen, die

sich mit Verhafteten füllte. Ein, zwei Dutzend. Hitze. Ein Basler,

mit dem ich sprach. Ein Deutscher, ein Tourist. Draussen

kam plötzlich einer – war das nicht Rolf? – über den Gang gerannt,

schreiend, in Unterhose. Es war vier Uhr morgens, als

ich zur Einvernahme gebracht wurde. Der Polizeidetektiv war

korrekt, im Tonfall väterlich. Er behauptete, wir hätten

jemanden umgebracht, entliess mich aber, als ich darauf nicht

einging.

      Die Stadt leergefegt. Es war noch Nacht. An der

Bellerivestrasse, bei Esther, wo das Komitée seine Zentrale hatte,

öffnete Robert. Am Boden lagen Leute, die schliefen. “Pssst“,

machte Robert. „Die Katze hat Junge bekommen.“ Da lag sie –

Esthers schwarze Katze, ein halbes Dutzend Junge

angeschmiegt. Am Platzspitz um eins, sagte Robert. Da würde

man sich treffen und weitersehen.

      Es war kein gutes Wiedersehen. Die Leute vom Komitée

standen hilflos zusammen, ängstlich, eingeschüchtert.

Man ging zu Yves in die Wohnung. Irgendwann fuhr ich mit Tino

zum Hauptbahnhof – Zeitungen holen. Extrablätter wurden

verkauft. Was da stand, war verheerend. Zurück zu Yves‘ Wohnung

im Oberdorf ging ich zu Fuss. Tino war mit 130 über das

Central geprescht. Und ich hatte wenig Lust auf eine zweite solche Fahrt. Vier Uhr war Pressekonferenz im Grünen Glas.

      Abends ging der Krawall vor dem Globus schon wieder los

– kein Mensch hatte zu einer Demonstration aufgerufen.

Oben im Hirschengraben standen Thomy und Rainer und schauten

auf das Geschehen herab. Es war nicht mehr ihre Sache,

was vor dem Globus unten ablief.

      Was aus ihnen allen – zwei Jahrzehnte später – geworden

ist? Thomy ist Unternehmensberater bei McKinsey, Rainer

hat die Ropress aufgebaut. Yves ist Briefkastenonkel

beim TagesAnzeiger geworden, Robert Filmproduzent, Rolf

Sozialarbeiter. René und Tino leben nicht mehr. Polizeidirektor

Bertschi hat sich kurz darauf selbst portraitiert – als

Clown. Ein, zwei Jahre nach dem Globus-Krawall war sein

Gemälde in einer Hobby-Künstler-Ausstellung zu

sehen. Finanzvorstand Bieri hat zur Bank Bär in die Chefetage

gewechselt, Stadtpräsident Widmer widmet sich Radio Z,

dem „Züri Leu“ und dem Hofer-Klub. Sozialvorstand Ziegler und

Globus-Direktor Mahler leben nicht mehr.


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