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Fritz Hirzel, Rike Mohaupt. Roman. Kapitel XIV
RIKE MOHAUPT MACHT IN DER KÜCHE GERADE KAFFEE,
das Telefon geht und Steamboat ist dran. „Ich muss dir”, sagt er,
„die Geschichte erzählen, die ich gestern erlebt hab. Ich sitze
im Wagen und warte darauf, dass das Parkhaus Mercer südlich 8th
Street um sechs aufmacht. Unmittelbar vor mir ist eine Gang
aus fünf kräftigen jungen Männern, auf dem Kofferraum
ihres Wagens haben sie zwei grosse Pizzaschachteln und fünf
Snapple Flaschen. Sie sind gut drauf, aber –” Er lacht.
Mann, oh Mann! denkt Rike. Kommt Steamboat gerade erst nach Hause, am Morgen früh? Er sagt: „– nach einer Weile
gerät alles ausser Kontrolle, die Pizzastücke verspritzen, die
Snapple Flaschen zerschlagen, es entsteht eine Sauerei.
Ich werde wütend, aber es sind fünf kräftige Männer, ich sage also
nichts. Und wie ich so dasitze und vor mich hin schmolle,
kommt über den Bürgersteig ein Clown gegangen. Er sieht aus,
als komme er direkt von Ringling Brothers, er muss zu
einem Kindergeburtstag unterwegs gewesen sein. Er hält an und
überblickt die Szene und geht dann, ohne ein Wort
zu sagen, zum Kofferraum, ergreift eine der Pizzaschachteln
und sammelt das zerbrochene Glas und die Pizzastücke
vom Boden auf. Als er fertig ist, geht er zur Ecke, wo
die Mülltonne steht, und deponiert alles. Die jungen Männer
sind sprachlos! Dann kommt der Clown zu ihnen und hält seinen
Hut hin. Sie kramen in ihren Taschen und rücken ihr
Wechselgeld heraus. Und er verneigt sich und zieht von dannen.”
And so finally, here we are at the beginning of a whole new
era. The start of a brand new world. And now what? How do we
start? How do we begin? Das ist Laurie Anderson, das ist
Homeland, Fabio Calvani hat das aufgelegt. Er sitzt auf dem Sofa,
barfuss, in Hemd und Hose, und blättert im Monopol, der Kunstzeitschrift. Sie hält das Telefon in der Hand, sie denkt, sie
hält NYC in der Hand, so früh am Morgen, es wird flirrend
heiss und feucht werden und bald fällt auch der Strom da und dort
aus, Oh, man, this is torture. Sie sagt zu Steamboat: „Danke
für die Geschichte.” Es ist Juni geworden in Moabit, mal Sonne,
mal Wolken, mal richtig warm, mal windig kühl, aber seit
ein paar Tagen ist es sommerlich, richtig sommerlich, anhaltend,
ungebrochen heiss, es ist Mittwoch, 30. Juni 2010, es ist
später Vormittag. Sie legt auf. And now what? How do we start?
How do we begin? Sie geht zur Wohnungstür. Sie geht
nach unten. Die Post holen. Treppab denkt sie, er hat gar nicht
nach Fabio gefragt. Er scheint sie zu mögen. Sie selbst.
Irgendwie. Sie nimmt zwei Tritte auf einmal. Dem Briefkasten
entnimmt sie eine Abholungsaufforderung der Deutschen
Post AG. Sie geht in die Wohnung zurück. Sie ruft an. Es ist
ein Paket, aufgegeben in Ingoldstadt, Absender Künast
Versandhandel mbH. Sie sitzt am Wohnzimmertisch, die Tasse
Kaffee vor sich, den Pott. Sie sagt ins Telefon: „Kühn – was?”
Sie nimmt das Telefon vom Ohr. Dann, betont: „Egal.”
Pause. „Nein, ich will das nicht, was immer es ist.” Sie hat in
diesen Tagen nichts bestellt, weder bei Künast in Ingoldstadt noch sonstwo auf der Welt. Sie lässt das Paket zurückschicken.
Sie legt auf. Fabio blättert noch immer im Monopol, der
Kunstzeitschrift, erst als sie vom Tisch aufsteht, blickt er auf.
Künast? denkt sie. Nein. Das ist es nicht. Sie bekommt zu
spüren, dass Stephen Wagoner entlassen worden ist. Aus der Liebe.
Aus dem Spital. Aus dem Konkurs. Das ist es. Sie tritt näher
ans Sofa. Sie sagt zu Fabio: „Du weisst noch nicht alles von mir.”
Er schaut amüsiert. Er lässt das Monopol los. Er sagt: „Ich
weiss gar nix von dir.” Sie lachen beide. Sie tritt zu ihm hin, den
Kaffee in der Hand. Sie setzt sich neben ihn. Sie zögert. Sie
sagt: „Als ich mich von Stephen getrennt hab, hab ich was unter
meinem Toyota gefunden, ich hab die Polizei gerufen, sie
hat das für eine Bombe gehalten, sie hat eine gezielte Sprengung veranlasst, aber was übrig blieb, waren nicht Reste einer
Bombe, sondern Teile eines GPS-Peilsenders. Auf
dem Polizeiabschnitt haben sie gesagt –“ Sie beugt sich vor.
Sie starrt auf das Parkett zu ihren blossen Füssen.
Und seinen. Das Parkett. Ist nicht auch das eine Kunstzeitschrift?
Fabio legt seine Hand um ihren Rücken. Er sagt: „Und? was
haben sie auf dem Polizeiabschnitt gesagt?“ Sie atmet aus. Sie stellt
den Kaffee ab, auf das Parkett. Sie fährt mit der Hand durch
das Haar. Sie sagt: „Ich hab das noch nie jemandem erzählt, auch
meiner Mutter nicht. Die macht sich zu viele Sorgen.” Er nickt.
Er sagt: „Der Toyota. Und das Geheimnis darunter. Mal abgesehen
vom Gaspedal.” Er wirft den Kopf zurück. Das Monopol
rutscht. Die Kunstzeitschrift landet auf dem Parkett. Er sagt: „Ich
weiss, du bist entflammbar, wenn du im Benzinschlucker
unterwegs bist.” Sie lächelt. Wie meint er das? Sie blickt ihn von
der Seite an. Sie sagt: „Das Dumme ist, ich hab das vorher
schon getan.“ Er lacht kurz auf. Er beugt sich vor. Er ist geschmeidig.
Er sagt: „Was? was hast du vorher schon getan?“ Sie lächelt.
Sie greift nach seiner Hand. Sie sagt: „Auf dem Polizeiabschnitt
haben sie gesagt, es kann nicht schaden, wenn ich in
nächster Zeit unter den Wagen schaue, ehe ich losfahre. Aber
weisst du –” Sie sieht, er hat die Beine gestreckt. Sie sieht,
er hat sie halb geöffnet. Er lacht. Sie denkt, er macht die Beine breit.
Er? Er fragt: „Wann vorher? was?” Sie sagt: „– ja, ich hab das
schon getan, ehe das mit Stephen passiert ist. Ich hab das immer
schon getan. Ich hab immer unter den Wagen geschaut,
wenn ich eingestiegen bin. Ich weiss auch nicht warum.“ Sie neigt
sich Fabio zu. Dann fasst sie einen Entschluss. Sie setzt sich
auf seinen Schoss. Hat er das? Einen Schoss? Egal. Sie streift ihr
T-Shirt über den Kopf. Sie muss sich einfach wegwerfen.
Er denkt, es ist das lockige blonde Haar. Er denkt, es ist der sanft
geschwungene Rücken. Er küsst sie. Es ist der süsse,
frischfeuchte Mund. Er öffnet die Hose. Er dringt in sie ein.
Sie fährt hoch. Sie atmet schnell. Sie wippt über ihm
nach vorn. Sie wirft den Kopf zurück und mit ihm das lockige
blonde Haar. Er hält ihre linke Brust fest in der Hand.
Der Kaffee stürzt um. Er tränkt das Monopol. Und das Parkett.
Berlin bleibt doch Berlin!
Montag, 22. November 1943, 19.41 Uhr. August Mohaupt
steht Nördlingerstrasse 3 im Parterre am Fenster.
Er kratzt sich. Er denkt, dicht bewölkter Nachthimmel sieht
anders aus. Er tritt vor das Haus. Der Nachthimmel
reisst auf. Mondlicht erhellt den Dachfirst gegenüber. Er geht
beunruhigt ins Haus zurück, in die Wohnung. Er blickt
auf die Strasse. Eine Horde Betrunkener wankt vorbei. Jemand
ruft: „Christbäume! Es regnet Christbäume!” Jemand
anderer: „Berlin bleibt doch Berlin!” Anzeigen, die Bande!
denkt Mohaupt. An die Wand stellen! aufhängen,
alle zusammen! Er zupft mit Daumen und Zeigefinger am
Schnurrbart. Die Sirene um die Ecke heult los.
Er macht das Fenster dicht. Er schliesst die Wohnung ab,
das Haus. Er tritt auf die Strasse. Bomber am Himmel. Sie sind
hinter ihm her. Er erreicht gerade noch den Luftschutzkeller.
Er findet Else mit Sack und Pack an ihrem Platz. Dann geht es los.
Er blickt auf die Uhr. Es ist 19.58 Uhr. Sowas hat er noch
nicht erlebt. Und sie auch nicht. Alles wackelt. Es ist die Hölle.
Er selber ist die Ratte. Lebendig begraben! Als die
Detonationen nach einer halben Stunde nachlassen, tritt er aus
dem Luftschutzkeller. Am Nachthimmel lassen Maschinen
der Royal Air Force – Typ Halifax, Typ Lancaster – in einiger
Entfernung fallen, was sie mit sich führen, in gerader Linie
von Messegelände zum Alex, aber einige Maschinen schon früher.
Rund um ihn herum ist die Hölle los. Wo ist er? Er kennt sich
nicht aus. Er steigt über Trümmer. Er tastet Richtung
Haberlandstrasse, Richtung Haus. Richtung Nördlingerstrasse 3.
So ein Scheiss. Es ist heiss. Es ist hell. Die Welt versinkt
im Feuer. Überall Glassplitter, Fenster, weggeputzte Türen,
Ziegelwände, atomisierte Häuserzeilen. Eine Fassade
stürzt auf die Strasse. Direkt vor seinen Augen. Alles kracht herab.
Es stinkt. Es stinkt gewaltig. Er weiss, was stinkt. Verbranntes
Fleisch. Es ist die Ratte. Es ist Bernhardchen. Ein komplettes
Schlafzimmer sackt auf die Strasse, das Ehebett ihm vor die Füsse,
Hundekadaver obenauf. Er kämpft sich durch. Hat hier das Haus gestanden? oder dort? dort drüben? Haberland–... so ein Scheiss – Nördlingerstrasse 3. Alles weg. Das Haus. Ein Schutthaufen.
Ein Mensch – was ist das? – knallt herab, eine Fackel, klatscht in der Strassenmitte in den Brunnen, gekocht wie ein Krebs. Er
schwankt, unter dem Schuh liegt ein anderer, gegrillt. Ein dritter
segelt durch die Luft, eine Motte, ein Nachtfalter, in den
Feuersog gerissen. Zisch! War das nicht Hirsch gewesen? Hirsch, der Hauswart! installiert Haberlandstrasse 5! ihm vorgezogen,
nachdem das Genie in Amerika zu bleiben beschlossen hatte!
in Amerika, wo die Bomberpiloten herkamen, die ihre Dinge
über seinem Kopf abluden! Es ist 20.47 Uhr. Das zeigt die Uhr an.
Aber die Uhr steht. Er blickt hinüber. Haberlandstrasse 5. Das
Haus steht. Das Haus brennt. Einstein! Alles Einstein! Die Adresse
des Genies. Verkauft. Neuer Eigentümer Eidgenössische Bank.
Das Schnäppchen. Eine Ruine. Er steigt über den Schutt. Er klopft
an die Tür. Nichts. Er ruft: „Hirsch!” Er stemmt gegen die Tür.
„Hirsch? Sind Sie da?” Er lacht das kurze, schrille Mohaupt-Lachen.
„Ich hab Lebensmittelkarten für Sie.” Die Tür gibt nach. Hirsch,
der Hauswart! die Mischeheratte! Er liegt im Dunkel am Boden. Er
bäumt sich auf. Mohaupt schlägt sofort zu.
Es ist der Leuchtturm, denkt Rike
Mohaupt. Sie hätte das Bild Stephen Wagoner nicht verkaufen
sollen. Er belästigt sie offen. Anderntags hat sie die zweite
Abholungsaufforderung der Deutschen Post AG am Hals, tags
darauf die dritte. Sie ruft nicht mehr an, das tut Fabio
Calvani, in Ingoldstadt, bei Künast Versandhandel mbH. Nach
mehrfachem Beharren wird ihm der Besteller der
Versandaufträge genannt, ein gewisser Lutz Opfergelt,
wohnhaft in Ismaning. Am Telefon gibt er vor von
nichts zu wissen. Es ist Freitag, 2. Juli 2010. Sie denkt, zuerst
hat Stephen sie in der Galerie belästigt. Am Telefon.
Er weiss, in der Galerie nimmt sie ab. Er hört sie. Das hat zur Folge, dass er weiss, wo sie ist. So einfach ist das. Sie hat Angst.
Sie geht nicht mehr in die Galerie. Dann erst beginnt er die täglichen Versandpakete loszulassen, die ja nur die eine Front sind,
an der ihr Ex sie belagert. Er schreibt E-Mails. Er schreibt I can’t
live without you. In vierundzwanzig Stunden hat sie drei
Dutzend E-Mails bekommen. Die kann sie nicht mal löschen. Sie
soll alles speichern, haben sie ihr auf dem Polizeiabschnitt
gesagt. Sie ändert die E-Mail-Adresse. Es ist mühsam. Es ist anstrengend. Es nervt. Sie hat den Eindruck, er verlegt
sich auf die Wohnung an der Quitzowstrasse. Ist er in Germany?
Ist er in Berlin? Sie denkt, sie ist gewarnt. Eine verdächtige
Ruhe ist eingekehrt an der Quitzowstrasse, es ist wie Nationalfeiertag,
es ist geflaggt, kein Mensch ist auf der Strasse, es ist
Weltmeisterschaft, eine verdächtige Leere ist eingekehrt an der Quitzowstrasse, es ist das Fernsehbild aus Südafrika, auf
das sie alle schauen, Schland, oh Schland, kein Deut von german
Angst, a young team, very aggressive, sie sind überzeugt
Weltmeister zu werden, das kann sie mit dem Wörterbuch nicht übersetzen, das ist nicht Soccer, das ist Fussball. Sie läuft
jeden Tag, sie ist in der Kälte gelaufen, jetzt läuft sie in der Hitze,
sie denkt, sie übt, sie denkt, sie übt für den Ernstfall. Es ist,
wenn die Sonne auf Moabit herunterbrennt, eigentlich zu heiss
zum Laufen, aber sie hält daran fest. Sie läuft jeden Tag, sie
läuft jeden Tag um den Westhafen herum. Es ist eine Lebensnotwendigkeit geworden, diese tägliche Übung, diese
Fitness, dieser Kick, unverzichtbar, dieses Beta-Endorphin,
es ist ihr persönlicher Sieg gegen BP, in die ihr Ex sich verwandelt
hat, verklumpt, schlierig, klebrig. Ja, so ist es. Sie versucht an
den Alltagsgewohnheiten festzuhalten. Als sie vom Laufen zurückkommt, findet sie rötlich-öligen Schaum im Briefkasten.
Stephen, denkt sie. Stephen Wagoner. Weinmarketing?
Sie lacht. Er hätte ins Ölgeschäft gehen sollen, zu BP. Alles ölig
verklumpt, man wird es nicht los, das Meer erstickt in
Ölschlieren, die sich ans Festland verteilen, in Louisiana,
Mississippi, Alabama, aber es sprudelt, das Leck, es
sprudelt weiter, und dann, am 17. Mai – das war der Tag, an dem
der Chief Executive Officer von BP vorausgesagt hatte,
dass „der Umweltschaden dieses Desasters sehr, sehr gering
zu sein scheint” – war es offenkundig, dass es die grösste Umweltkatastrophe in der Geschichte der USA war, und dann, am Dienstag, 15. Juni, als Präsident Obama den Medientross
für seine erste Rede an die Nation aus dem Oval Office bestellte,
war der geschätzte Ölausfluss hochgeschnellt auf 60 000
Barrrels, auf 1000 Barrrels jeden Tag, erst hatte es geheissen,
es sind 800 000 Liter Öl, die im Golf von Mexiko jeden Tag
ausfliessen, dann hatte es geheissen, es sind 2,2 Millionen Liter Öl,
die im Golf von Mexiko jeden Tag ausfliessen, dann hatte es
geheissen, es sind 6,5 Millionen Liter Öl, die im Golf von Mexiko
jeden Tag ausfliessen, dann hatte es geheissen, es sind 15,9
Millionen Liter Öl, die im Golf von Mexiko jeden Tag ausfliessen. Deepwater Horizon, denkt sie. Was für ein Wort für eine
Bohrinsel! Was für ein Wort für ein Desaster! Sie geht auf den Polizeiabschnitt. Sie meldet den Vorfall. Rötlich-öliger
Schaum im Briefkasten? Die Polizeibeamtin, grüne Augen, blondes Haar, lächelt milde. Nein, denkt Rike. Er ist nicht in Berlin.
Dann hört sie, er ist gesehen worden – in Anzug, mit Krawatte,
inmittten der Passanten am Broadway, er ist im Internet
gesehen worden, vor der Webcam am Times Square, mit
hochgehaltener Pappe, da stand drauf: Fix it, Baby! Ireen Mohaupt
hat angerufen, die besorgte Mutter, die Photographin mit der Dunkelkammer, die Familienchronistin der Hooper Street, Brooklyn.
Sie hat es von Annie Wanamaker, die im Beth Israel Medical
Center arbeitet und an der Hooper Street wieder mal ihre Mutter im Haus schräg gegenüber besucht, als Ireen Mohaupt gerade
ins Auto einsteigt. Sie hat es von Annie Wanamaker gehört, der sauberen, aufgeblondeten, in zweiter Ehe verheirateten,
rothaarigen Schulfreundin, die mit ihrer Tochter die High School gemacht hat. Eine Arbeitskollegin im Beth Israel Medical
Center hat ihn erkannt, Stephen Wagoner. Ist er nicht
der Suizidpatient gewesen? Sie hat es Annie Wanamaker in der Mittagpause gesagt. Oh nein, denkt Rike, sie ist aufgewühlt,
sie ist beschämt, sie ist erschrocken, sie stellt sich vor, wie er winkt
und lächelt und bettelt, ihr Ex in Anzug, mit Krawatte
am Times Square, er ist out, denkt sie, und dann, sie atmet
tief ein, denkt sie, er ist wie das Öl, er ist out of control,
der Leuchtturm im Strom der Passanten vor der Webcam, er ist
das Leck, er ist die sprudelnde Quelle im Golf von Mexiko,
der Letzte mit einer Botschaft, der Stehaufmann mit dem Charme
des Weinverkäufers, die Pappe zur Webcam: Fix it, Baby!
Sie denkt, er ist durchgeknallt. Hat sie Konkurs gemacht? Es gibt
nichts zu reparieren. Sie hat den Hörer in der Hand, sie zittert,
ihr ist schwindlig, sie würgt und räuspert sich und schluckt, sie fährt
mit dem Rücken der freien Hand über die nasse Stirn.
Immerhin, das ist nun sicher. Er ist in NYC. Er ist nicht in Berlin.
Aber das ist vor drei Tagen. Dann passiert es. Beim
Laufen. Am Westhafen. Am Uferweg, der einsam ist. Und voller Verkehrslärm. Im Westen lärmen, im Osten angreifen.
Es ist Samstag, 3. Juli 2010. Sie hat das Nordufer fast hinter sich
und mit ihm die Umrandungsmauer des Virchow Klinikums
der Charité, wo auf der Kanalseite der Strasse Autos geparkt sind,
wo die Böschung steil abfällt zum Pfad, der direkt dem Wasser entlangführt, Eigentum der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des
Bundes. Benutzen und Betreten verboten, schmal, erdig,
struppig, mit Wasser, Licht und Schatten im Blattgrün der Bäume
und Sträucher, dem Gehweg entlang, den oben Elektromaste
markieren, die sich im Abstand einiger Meter folgen, Hochspannung, Lebensgefahr, sie hört, wie am Ende der Strasse an einem der
geparkten Autos eine Tür zufällt, sie quert die Lichtung der Kanaluferwaldung, er kommt über den pflastersteingesicherten
Hang herabgesprungen. Er hat sie ausspioniert. Er
stürzt sich auf sie. Er schlägt mit einem Baseballschläger
nach ihr. Sie entkommt.
Deutschland ist im Halbfinale. Es ist zwei Uhr früh. Sie steht
in diesem Klub, dem Dice. Das bringt dich auf andere Gedanken,
hat Fabio gesagt, Schwarzrotgold bemalte Gesichter.
Mädchen in Röhrenjeans. Jungs mit Ponyfrisuren. Minimal Techno
and House. Eine freistehende, rechteckige Bar. Zwei
Tanzflächen, beide voll. Neonröhren, die im Rhythmus blinken. Perfekter Sound. Kein Zischeln. Kein Grummeln. Nur im
Kopf die Endlosschlaufe, die kratzt. Er hat sie angegriffen. Ihr Ex.
Er hat sie überfallen. Im Golden Gate, im WMF und im
Weekend hat Fabio es mit ihr zuvor schon versucht. Jetzt sind
sie im Dice gelandet, dem Club im Umspannwerk, dem
ehemaligen. Hochspannung, Lebensgefahr. Der Angriff. Der Überfall. Er ist hart genug. Was aber schlimmer ist, denkt sie, ist die
Reaktion von Fabio. Lass dich nicht isolieren, hat er gesagt. Wir
gehen aus. Ja, wir gehen aus. Es wird gefeiert in der Stadt.
Jetzt steht sie hier, in diesem Klub, zwei Uhr früh, im Dice, und
weiss nicht wozu. Oder doch? Hier muss Fabio nicht reden.
Es ist zu laut. Er hält sich am Drink fest. Sie hat den Eindruck,
er glaubt ihr nicht. Der Bauch sagt ihr, er will nicht hören,
was sie sagt. Sie hat das Gefühl. sie wird abgemurckst. Als sie es ihm erzählt hat, im Taxi durch Mitte, durch Kreuzberg, begleitet von trötenden, hupenden, feiernden Fans, grinst er, kratzt sich im Haar
und fragt: „Was für eine Jogginghose hast du angehabt? die
graue? oder die schwarze?“ Sie denkt, das gibt es nicht. Sie denkt,
ist das smart? ist das sado? Sie denkt, es ist zwei für eins.
Er berührt sie an der Schulter. Er sagt: „Nun entspann dich mal
ein bisschen.“ Sie fragt: „Im Darkroom?“
Kein Picknick an der Havel. Sie hat das Haus am
Independence Day nicht verlassen. That all men are created
equal, that they are endowed by their Creator with certain
unalienable Rights, that among these are Liberty and the pursuit
of Happiness. Anderntags, es ist Montag, 5. Juli 2010,
es ist Mittag, läutet der Postbote. Er läutet viertes OG, Vorderhaus, Quitzowstrasse 104. Der Stehaufmann schickt ein Versandpaket,
das an der Tür abgegeben werden muss, denkt sie. Wenigstens keine Abholungsaufforderung. Sie öffnet. Er steht vor der Tür. Ihr Ex.
Stephen Wagoner. Anzug, Krawatte. Der Mann mit dem
Durchsetzungsvermögen. Er strahlt. Er grinst. Der Mann, für den
es kein Nein gibt. Sie denkt, es eskaliert alles. Er sagt:
„Herr Zühlke hat mir aufgemacht.” Er drängt sie hinein. Sie flieht.
Er stösst sie von hinten. Sie stolpert. Die Wohnungstür fällt zu.
Sie erreicht das Wohnzimmer. Sie fällt hin. Er lacht. Er packt sie.
Sie befreit sich. Das Teppichmesser, denkt sie. Sie sagt:
„Nun warte mal.” Er dreht sich um. Sie erreicht die Küche. Er folgt.
Sie reisst die rechte Schublade auf, aber da ist kein
Teppichmesser. Er fragt: „Was suchst du, Liebes?” Sie dreht
sich nach ihm um. Er schlägt zu. Ihr linkes Auge explodiert.
Sie geht zu Boden. Er tritt nach ihr. Sie windet sich. Dann, wie aus
der Ferne, hört sie, wie Fabio durch die Wohnungstür tritt.
Sie denkt, er hat das Teppichmesser. Sie dreht den Kopf. Sie öffnet
das Auge, mit dem sie noch sieht. Er hat das Teppichmesser in
der Hand. Er tritt auf Stephen Wagoner zu. Leise sagt er: „Hau ab.” Fabio war gerade erst aufgebrochen, er hatte etwas vergessen,
etwas für die Galerie.