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IN DER BRASSERIE
Fritz Hirzel, Bald fängt es im Gewirr der Stimmen
eigenwillig zu brodeln an, TagesAnzeiger, Zürich, 10.
Januar 1983
Für viele, nicht nur Reisende im engeren Sinn, ist die Brasserie
im Hauptbahnhof eine Wirtschaft, auf die bei aller Fährnis
des Lebens Verlass ist. Hier findet jeder seinen Platz, auch in der
rauhen Zeit der Festtagsfreude. An Wochenenden, wenn
die Tische nachmittags schon voll belegt sind, fängt es im Gewirr
der Stimmen eigenwillig zu brodeln an. Hier verträgt es,
so viel glaubt das Volk zu wissen, mehr als anderswo. Am Abend,
im Schwall der Betriebsamkeit, stört niemand sich
am Gesang, der bierschwer aus irgendeiner Ecke dringt. Ein
bisschen auch beginnt bereits der Balkan zwischen
einzelnen der Tische. Zahlreich sind die Fremdarbeiter, die sich
von ihrer Ankunft offenkundig nie erholen. Sie halten am
Bahnhofbuffet fest, als sei's ein Brückenpfeiler in die Heimat.
In den 1920erjahren noch, als der Inhaber im Untergrund
einen Weinkeller eingebaut haben wollte, hiess die Gaststätte
auf der Rückseite des Hauptbahnhofs Buffet 3. Classe.
lnzwischen wurde sie etliche Male wenn nicht umgebaut, so doch
renoviert, heute heisst sie Brasserie: Was aber ändem schon
Namen an einer Stätte mit so unverwechselbarer Eigenart? Das Drittklassbuffet ist nicht nur ein Lokal, in dem man zum
Essen den Hut aufbehalten kann. Der Fluss der Geselligkeit, der
an diesem Ort der Gegensätze anzutreffen ist, schlägt
viele Kapriolen. Nirgends jedoch sitzt die Stammkundschaft so
reizvoll mit dem Wechselbalg des Zufalls Tisch an Tisch.
Manchmal wurde, zugegebenermassen, auch nachgeholfen.
Von draussen, durch eines der Fenster, spähten immer
wieder aus der Bahnhofhalle einige der bargeldlosen Kumpel
herein und hielten nach einem Zechkumpan Ausschau,
der ihnen ein Bier oder zwei spendieren konnte. Neuerdings
sind die Verhältnisse für die Fenstergucker erschwert.
In den letzten Wochen wurde vor der Brasserie eine Baugrube
ausgehoben und eine gelbgestrichelte Bretterwand
errichtet. Nun starrten die Passanten in das katakombenähnlich freigelegte unterirdische Mauerwerk hinunter, an dem
zwei gelbbehelmte Bauarbeiter auf einem Gerüst im Lichtkegel
des Baggerfahrzeugs hantierten.
Jene, die zum ersten Mal
aus der Bahnhofhalle in die Brasserie eintreten, mag die
Regsamkeit im Innenraum mit seinem Oberlicht
verblüffen, diese von Lärm und Qualm erfüllte Bierhallenwelt,
proletarisch und dennoch im Jugendstil. Der von
Menschen aller Gattungen besetzte Raum ist voller Betrieb
und gleichwohl wie ein Wartesaal des Lebens mit
überhohen Fenstern ausgestattet, deren Halbrundbogen
an den Wänden von Stukkaturen imitiert werden.
Wer den Blick noch höher hebt, kann durch das Oberlicht
die Tagessonne sehen. Wie aus einem Jenseits
schimmert sie grün. gelb und bordeauxrot auf die Köpfe der
Biertrinker herab. Das Glasmosaik zeigt ein von
Blattwerk und Blumengeranke umschlungenes Flügelrad,
das Symbol der Eisenbahn.
Unten sitzen in einer der knapp gewordenen Pausen,
die ihnen der Fahrplan lässt, an reservierten Tischen
in Uniform die Bähnler. Zugegeben, es ist eine Gastwirtschaft
begrenzter Seligkeit, aber irgendein übergreifendes
Gefühl, das mehr als Bahnhof sagt, vermittelt sie bestimmt,
diese von Leben erfüllte Etage der Köpfe, der Menschen,
deren Gegenwart manchmal banal erscheint, doch handkehrum
bizarr. Sogar über Lautsprecher ans Telefon gerufen
werden die Leute. Es mag hier plebejisch zugehen, anziehend,
aber verwirrend auch, fremd und doch vertraut,
vielleicht abstossend sogar, selten aber langweilig. Und
mittendrin hockt der gestandene Schweizer Soldat,
zurückgelehnt, die Hand am Ceinturon, ein Grosses vor sich,
Pfeife im Mund, und suggelt stumm vor sich hin.
Über dem Buffet, landwirtschaftlich dekoriert mit Fässern
und Wagenrad, ist eine Reklametafel angebracht,
die für Rösti ab 6 Uhr früh wirbt.
Erst recht frühmorgens, wenn die Nacht Schlaflose
und andere zwanghafte Herumtreiber entlässt, ist die Brasserie
bereits ein tröstlich belebter Zufluchtsort. Zwar geht
es zwischen den Tischen noch inselhaft beschaulich zu,
verglichen mit dem Gedränge auf den Perrons, mit
dem sich hektisch der Arbeitstrott ankündigt. Nein, einsam
braucht sich in dieser Wirtschaft einer nicht zu fühlen.
Den Hut tief in der Stirn sitzt morgens um sechs hier der alte
Mann und tunkt den Gipfel in seine Schale, als hätte
er Kafi-Brocken vor sich. Ein bisschen kahl, gar unberührt
sieht das Lokal aus, solange einige der Tische leer
dastehen. Ein Gast zieht mit verhaltenem Gepolter wieder
ab, weil er nichts Alkoholisches bekommt um diese
Stunde. Auch das ist die Brasserie für manche im Laufe der
Jahre gewesen: Endstation der langen Reise durch
die Nacht.
Munter nimmt der Nachmittag
sich aus. Da lassen sich auf einem Stuhl Einzelreisende nieder,
die einen Hintergrund sich überdeckender Sprachen,
Menschen und Geräusche zu schätzen wissen. Ein Mann, vor
einem dunklen Bier sitzend, Mitte vierzig, Krawattenträger,
Brille und buschigem, gezwirbeltem Schnauz, liest in einem Buch,
als sei‘s ihm in diesem Gebrodel am wohlsten.
Die Serviertochter zieht sich mit Geschick aus einer Affaire.
Pausenlos laufen zwei Kellner hin und her, einer hat
sogar ein Ohr für Bestellungen. Ein Kerl mit funkelnder Nase
muss, kaum hat er sich gesetzt, dringend einen Dreier
Roten haben, der ihm beinahe fliegend gereicht wird. Nur
einem, der einst eine Portion Käse bestellte. konnte
es passieren, dass er sie vakuumverpackt in Plastik serviert
bekam.
Zum Erstaunlichsten gehört, was für gegensätzliche
Charaktere und Welten in der Brasserie Platz finden und meist
auch ohne Hiebe aneinander vorbeikommen. Da fällt
der Greis nicht auf, der in Sandalen stets am Sonntagmittag
eintritt, um vor einem Glas zu sitzen. Gerade in dieser
Betriebsamkeit mag er, ein Leuchten in den Augen, sich
staunend umgucken und verweilen. Mit dem
Wintereinbruch sind nicht zuletzt die Teddys, die auf den
Treppenstufen zur Bahnhofpost gelagert hatten,
vorübergehend in einer Ecke eingezogen. Neu ist so etwas
nicht. Gruppen, in denen man sich kennt, gibt es in der
Brasserie verschiedene. Am Abend, vor allem wenn wieder
Samstag ist, sammeln sich in einem Pulk allerhand
Vögel aus regionalem Gefilde. Über mehrere Tische hinweg
findet sich eine Menschentraube zusammen. Und
wechselt einer den Platz wie der Ledermann mit der Schleife,
die er zum Stirnband geschlungen hat, so tut er es
schwankend im Schritt, einiges zu gravitätisch.
Aufgestuhlt und geräumt wird nachts vor zwölf bereits.
Nachtwächter nehmen sich mit Geduld, bei ausgemachtem
Llcht, der letzten Überhockenden an. Lautlos wie eine
Nachtmahr ging dagegen ein Auftritt, der wochentags, in der
Mitte eines rnatten Abends, erfolgte, bei mässigem
Besuch vonstatten: Die Patrouille der Polizei, zwei Mann im
Kampfanzug, mit Béret und Walkie-talkie, führte mitten
durch das Lokal, in welchem sie bei den Herumsitzenden keinerlei Aufsehen erregen. Nicht, dass die Menge nicht applaudierte,
wenn Stühle fliegen und Männer aufspringen und es zugeht wie
in Slapstick Filmen. An einem Samstagnachmittag vor
ein paar Jahren. als die Kellner noch keine Gilets. sondern
Sennenkutteii trugen, kam es in der Sommerhitze an
den Gästetischen zu einer Schlägerei, bei der die Kampfhähne
kurzerhand gepackt und mit der Schwungkraft vereinter
Kellnerarme durch die Türvorhänge hindurch buchstäblich
hinausgeworfen wurden.
Hier beginnt, wenn die Leute sich zusammenfinden,
der Balkan. Hier ist der Jugoslawe anzutreffen, der mit dem
Glas von Tisch zu Tisch geht, von einer Gesprächsrunde
zur nächsten. Nach all den klaren Schnäpsen beginnen drei
Fremdarbeiter vereint zu singen, was sehr verhalten
und schrecklich nach Heimweh tönt. Einige der Türken sind
täglich in der Brasserie zugegen. An einem der
Tische, um den eine Gruppe robuster Männer versammelt
ist, gehört die Aufmerksamkeit ganz den zwei Frauen,
von denen sich die ältere schön gemacht hat wie eine Dame.
Etwas Vornehmes scheint ihr eigen, wenn sie die Hand
hebt oder sich die Lippen nachzeichnet. Eines Abends, als sie
schwarzgekleidet, mit violettem Schal erschien, nannten
die Männer sie schwarzer Engel. Wirklich nahe kommen die
gegensätzlichen Welten in der Brasserie sich selten.
Aber einmal hat eine wohl aus Serbien stammende Vaterfigur,
ein Hüne mit weissem Hut, nachdem er eine halbe
Stunde am Tisch mit einem Rekruten geplaudert hatte,
sich ebenfalls erhoben, als dieser aufstand und
sich verabschieden wollte, und ihn links und rechts geküsst.
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