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ROBERT WALSER IN HERISAU



               Fritz Hirzel, Robert Walser in Herisau – ein Poet, der

               verstummte, Schweizer Radio International            

              (Schweizerischer Kurzwellendienst), Bern, 26. März 1978.

               Audio 24‘ 10“


In einer Skizze, betitelt Radio, schreibt Robert Walser 1928:

„Gestern bediente ich mich zum ersten Mal eines Radiohörers. Ich

fand, es sei dies eine angenehme Art überzeugt zu sein,

man habe Unterhaltung. Man hört etwas Entferntes und die, die dies

Hörbare hervorbringen, sprechen gleichsam zu allen. Das

heisst: sie sind in vollkommener Unkenntnis über die Zahl und

Besonderheit ihrer Zuhörer. Ich hörte unter anderem die

Bekanntgabe von Sportergebnissen aus Berlin. Der, der sie mir

mitteilte, hatte von meiner Zuhörerschaft oder überhaupt

Existenz keine Ahnung. Ferner hörte ich schweizerdeutsche

Gedichtvorträge, die ich zum Teil ungewöhnlich amüsant

fand. Eine Gesellschaft von Radiohörern unterlässt naturgemäss

Gespräche zu führen. Indem sie mit Zuhören beschäftigt

ist, wird die Kunst Gesellschaft zu machen, sozusagen ein wenig

vernachlässigt. Es ist dies eine ganz artige selbstverständliche

Folgeerscheinung. Ich und die, die neben mir sassen, hörten, wie

aus England Cello gespielt wurde. Das hatte etwas Seltsames,

Wundervolles. Es wäre unhöflich, den Siegeszug des technischen

Erfindungsgeistes nicht schlankweg zuzugeben. Herrlich

dünkte mich der Genuss eines aus zauberischer Distanz zu mir

herübertanzenden Klavierspiels, dem eine gewisse

beschwingte Trägheit eigen zu sein schien. Dass ich gestern

zu ersten Mal Radio hörte, erfüllt mich mit einem

Internationalitätsgefühl, womit ich übrigens keine unbescheidene

Bemerkung gemacht haben möchte. Ich wohne hier

in einer Art Krankenzimmer und als Schreibunterlage für diese

Skizze dient mir eine Zeitschrift.“

      Die Skizze Radio, wie das meiste 1928 in der vom

tschechischen Staat finanzierten Prager Presse veröffentlicht,

ist aus seiner Berner Zeit. Sie entstand im Jahr,

bevor Walser in die Irrenanstalt Waldau eingeliefert wurde.


                                   Fünf Jahre später, am 19. Juni 1933,

wurde Walser unter Aufsicht eines Wärters nach Herisau

überführt. In der Heil- und Pflegeanstalt seines Heimatkantons

verbrachte er die letzten 23 Jahre seines Lebens.

      Am 25. Dezember 1956 verliess er mittags die Anstalt

um einen seiner Spaziergänge zu machen. Zwei Schulbuben

fanden ihn tot im Schnee. Von einem Herzschlag getroffen

soll er zu Boden gestürzt und liegen geblieben sein.

      In den 23 Jahren, die er in der Anstalt in Herisau verbrachte,

schrieb Walser keine Zeile mehr. Von seiner früheren

Existenz als Schriftsteller wollte er nichts mehr wissen. Am 15.

April 1953, als der Oberarzt ihm zum 75. Geburtstag eine

Würdigung der Neuen Zürcher Zeitung zeigen wollte, brauste

er auf und erklärte, das gehe ihn doch nichts an.

Gewissenhaft verrichtete er wie jeden Tag seine Hausarbeit,

putzte die Tische und faltete Papiersäcke.


                                   Arthur Stixenberger, heute

pensionierter Oberpfleger, war 22, als er 1935 – zwei Jahre nach

Walser – in die Anstalt kam.

      „Der Alltag im Haus, wo Herr Walser war“, sagt er.

„Aufstehen Morgen 6 Uhr Tagwache, halb sieben Uhr Frühstück,

halb acht Uhr Arbeitsbeginn – Tütenkleben. Zirka 11 Uhr

Mittagszeit, halb 12 Uhr Mittagessen. Und dann frei

für die Patienten bis halb 2 Uhr. Halb 2 Uhr bis halb 5 Uhr wieder Arbeitszeit. Und dann wieder frei bis abends. Und in dieser

offenen Abteilung hatten die Leute Ausgang im Sommer bis 8 Uhr

– im Winter... meines Wissens wurde zirka 7 Uhr geschlossen.

In Anbetracht, dass es eine offene Abteilung war, waren

diese Leute ja selbständig – sie hatten keine direkte Aufsicht.

Es wurde durch die Abteilungsschwester und eine – sonst

eine Schwester wurde diese einfach gehütet. Die Leute waren –

auch damals schon – auf dieser Abteilung sehr selbständig.“

      „Wie hätte es denn in der teureren Abteilung ausgesehen,

in die Walser zu wechseln sich weigerte?“

      „Ja, da hätte er Einzelzimmer gehabt – Aufenthaltsraum

– ah – salonmässig, wär natürlich ganz für sich gewesen... und –

was die Selbständigkeit anbelangt: wäre also gleich geblieben.

Linsen, Bohnen verlesen – das waren Zwischenarbeiten,

die wir damals bekamen... das gehörte auch zur Arbeitstherapie.

Dazwischen hat er eben noch fast Hausarbeit gemacht.

Ich weiss, dass er die Tische jeweils abgewaschen hat nach

dem Essen. Ich kann mich nur erinnern, wie schon

gesagt, dass man sehr aufpassen musste bei ihm, dass man

nicht zuviel auf ihn einging, und es einfach am besten war,

wenn man ihn allein machen liess, dass er seinen gewohnten

Tagesablauf hatte. Da legte er grossen Wert darauf.“

      „Es heisst, er hätte sich einen Spass daraus gemacht,

diese Stapel von Papiersäcken da möglichst hoch zu

machen, und sei dann sehr erbost gewesen, wenn dann jemand

ihm diese Dinger umgestossen hätte. Können Sie sich

daran erinnern?“

      „Ja, natürlich. Er war sehr eifrig. Er war ja damals einer

von den besten, er schaffte sehr flink und auch da

wollte er keine Einmischung dulden und wurde natürlich wild,

wenn er gestört wurde. Auch die kleinste Störung

an ihm selber, wenn ein Patient ihm zu nahe kam oder so,

das hat er nicht ertragen.“

      „Diese Besuche von Carl Seelig, die haben Sie wahrscheinlich

auch mitbekommen –“

      „Ich sah meines Wissens glaube ein Mal kurz Herr

Seelig und nur aus der... unter der Tür. Wie mir bekannt ist noch,

hat Herr Seelig gewöhnlich Herr Walser auf dem Weg

getroffen. Er war ihm entgegen gegangen.“

      „Und andere Besucher gab es ja kaum mehr?“

      „Nein. Keine anderen. Ist mir nichts bekannt. Für uns war er

ja ganz alleinstehend, ganz auf sich allein angewiesen.“

      „In dieser Zeit – wie hat sich da der Gesundheitszustand

– also nicht nur altersmässig, sondern auch sonst –

wie hat sich dieser Zustand verändert?“

      „Äusserlich, wollen wir sagen, hat er sich einfach den Jahren

entsprechend – hat man gesehen, dass er älter wird, aber

es ist nichts Bestimmtes aufgefallen. Er hat gealtert wie jeder

andere Mensch und dank seinen vielen Spaziergängen,

die er gemacht hat, glaubte man immer... oder war er halt immer

noch sehr rüstig und vital – körperlich.“

      „Und diese Distanz, die er gehalten hat zum Personal,

zu den Ärzten, zu den Mitpatienten, die ist gleich geblieben in den

23 Jahren oder hat sich da auch etwas verändert?“

      „Nein, das ist immer gleich geblieben, ist immer gleich

gewesen – immer die gleiche Zurückhaltung und die

Distanz, immer genau gleich, hm. Da war kein Unterschied - vom

ersten Tag bis zum letzten Tag, kann man fast sagen.“.


                                   Carl Seelig, der Vormund und

spätere Herausgeber, beschrieb Walser – 1936, nach dem ersten

Zusammentreffen: „Ein rundes, wie durch einen Blitzschlag

gespaltenes Kindergesicht mit rot angehauchten Backen, blauen

Augen und einem kurzen goldenen Schnurrbart. Die

Schläfenhaare angegraut, der ausgefranste Kragen und die

Krawatte etwas schief sitzend, die Zähne nicht

in bestem Zustand.“

      Seelig gegenüber soll Walser erklärt haben: „Es ist ein Unsinn

und eine Rohheit, an mich den Anspruch zu stellen, auch

in der Anstalt zu schriftstellern. Der einzige Boden, auf dem ein

Dichter produzieren kann, ist die Freiheit. Solange diese

Bedingung unerfüllt bleibt, weigere ich mich je wieder zu schreiben.

Damit, dass man mir ein Zimmer, Papier und Feder zur

Verfügung stellt, ist es nicht getan.“

      1945 notiert Seelig, der mit Walser regelmässig

Wanderungen unternahm: „Noch nie ist mir das Vagantenhafte

an Robert so deutlich aufgefallen wie an diesem Morgen,

an dem er übermütig wie noch selten ist. Die Hose hochgekrempelt

wittert er mit der Nase, schätzt den Stand der Sonne ab

und packt mich am Arm, als ein Trupp Bauern sichtbar wird:

,Tempo, damit wir ihnen nicht begegnen.´“


                                   Im gleichen Jahr, 1945, kam Schwester

Ida Stucki in die Anstalt. Sie war damals 27.

      „Der Alltag war eigentlich ziemlich streng eingeteilt in Freizeit

und Arbeitszeit und Essenszeit und auch das Zubettgehen

war strikte innegehalten zu dieser Zeit“, sagt sie.

      „Was war Ihre Aufgabe damals?“

      „Die Überwachung des ganzen Hauses und der einzelnen

Patienten, soweit diese spezielle Bedürfnisse hatten,

vor allem, weil – ...ich war nicht eigentlich einer Stube zugeteilt,

sondern war für das ganze Haus verantwortlich.“

      „Sie waren im Haus 1 –“

      „Ja.“

      „– wo Robert Walser war?“

      „Ja.“

      „Wieviele Leute waren da – einquartiert?“

      „Es waren zwischen 50 und 60 Männer.“

      „Es waren nur Männer – hier, im 1?“

      „Nur Männer. Zu jener Zeit war es also streng geteilt –

Frauen und Männer.“

      „Wie hat Robert Walser geschlafen – gab´s einen Schlafsaal

oder wie war das?“

      „Ja. Es war ein 10er-Schlafsaal. Und er hat – er war

mit den übrigen Patienten... er war ja völlig unauffällig – und hat

sich gut eingelebt, also was die Hausordnung anbetrifft.“

      „Er hat Hausarbeiten verrichtet –“

      „Er hat vor allem die Tische gewaschen. Das war seine

Aufgabe, die wollte er auch sehr ungern jemand anderem abtreten.

Und wie ich ins Haus 1 kam, hat mir meine Vorgängerin

gesagt, ich sollte ja nie versuchen, Herr Walser dieses Amt

wegzunehmen, denn das wäre eine grosse Beleidigung

für ihn. Und jünger, wie ich war, hab ich mich also daran gehalten.“

      „Wo wurden diese Papiersäcke gefaltet und geklebt?“

      „Das war also im... es war im selben Raum, der Aufenthalts-

und Essensraum. Man hat da nur abgeräumt und wieder

die Tische abgewaschen – vor dem Essen und nach dem Essen...“

      „Und diese Arbeit geschah in der Gruppe?“

      „...denn es hatte einzelne Patienten, die so ein Amt

übernommen haben. Und Herr Walser – der hat eben das

Tischeabwaschen übernommen und – äh – war sehr

darauf bedacht, dass es niemand anders macht.“

      „Und nachher, beim Kleben der Papiersäcke – da waren

mehrere Leute im Raum?“

      „Jaja, da waren... – einzelne gingen vielleicht hinaus zur

Gruppe oder in die Werkstatt, andere blieben zurück.“

      „Dafür gabs ja Taschengeld.“

      „Ja, es gab für – verschiedene Industrien haben

zeitweise – zum Beispiel Staniol von einer Fabrik in Rorschach,

da musste man den Staniol vom Papier befreien, also

vom Pergament- oder Seidenpapier. Und das wieder einpacken

in Säcke. Oder es gab von der Post Schnüre, die musste

man erlesen – die kleineren und die grösseren sortieren und dann

wieder bündeln. Und dann wurden sie wieder in Säcke

verpackt.“

      „Was war mit diesen Kastanien, diesen Linsen und Bohnen,

die da verlesen wurden?“

      „Ja, die waren hauptsächlich für den eigenen Betrieb...

vorwiegend. Man hat allerdings in der Sommerzeit – kamen zum

Beispiel von den Konservenfabriken... musste man die

Bohnen – die Spitzen abschneiden. Das war eine relativ gut

bezahlte Arbeit.“

      „Und diese Hausarbeiten – die wurden bezahlt in Form

von Geld oder in Form von Tabak oder ähnlichem?“

      „In früheren Jahren vor allem in Form von Tabak.“

      „Sie haben – äh – Walser gelesen. Wann haben Sie damit

angefangen?“

      „Ja. Relativ spät. Auf jeden Fall nach seinem Tod.“

      „Was hat das für Sie bedeutet?“

      „Es war sehr aufschlussreich – und schon vom Beruf her

interessant. Wenn man einen Menschen sieht, der sich

überhaupt nicht äussert, und nachher liest man diese Geschichten...

Man ist schon sehr beeindruckt.“

      „Sie haben ihn besser verstanden nachher?“

      „Ja, eigentlich.“

      „Dr. Stein hat von Schizophrenie gesprochen, aber es gab

ja... – es gab keinen einzigen Schub oder Anfall oder so

bei Walser, er war auch nicht depressiv. Er hat so eine Rolle

gespielt, das war die Rolle des Distanzierten, Höflichen.

Wie würden Sie diese Rolle sehen?“

      „Ja, wenn man die Schizophrenie als ein Gespaltensein

betrachtet, wie wir das früher gelernt haben, möcht

ich schon sagen, es würde stimmen. Oder es wäre einfach die

Kehrseite, die Kehrseite eines Menschen... der so in sich

gekehrt, total in sich gekehrt – und andererseits so fantasievoll

und so sprachlich begabt sich ausdrückt.“

      „Sie haben Mühe, diese beiden Dinge miteinander

zu verbinden?“

      „Ja,ja, möchte ich sagen. Ja.“

      „Es gibt natürlich auch in den Texten – gibt´s Passagen...

in Jakob von Gunten, wo er eine Schule beschreibt,

die nicht so unähnlich ist wie die Anstalt hier – aber diese Linie

bei Robert Walser, dieser Versuch, sich absolut

unterzuordnen und zu verschwinden, beinahe unsichtbar

zu werden, die gab´s, zumindest literarisch, früher

schon – die hat er einfach hier dann –“

      „– weitergespielt.“

      „– ja, ausschliesslich noch –“

      „Ja.“

      „– weitergeführt. Haben Sie den Eindruck, dass er

unglücklich war hier?“

      „Nein, gar nicht. Nein.“

      „Sie würden ihm nicht abnehmen, dass er lieber nochmals

einen Versuch gemacht hätte, in Freiheit zu leben?“

      „Bestimmt nicht die letzten Jahre, als ich ihn gekannt habe.

Ich halte das also wirklich nicht für möglich.“


                                   Seelig gegenüber soll Walser

geäussert haben: „Ich bin überzeugt, dass Hölderlin in den letzten

30 Jahren seines Lebens gar nicht so unglücklich war,

wie es die Literaturprofessoren ausmalen. In seinem bescheidenen

Winkel dahinträumen zu können, ohne beständig Ansprüche

erfüllen zu müssen, ist bestimmt kein Märtyrium. Die

Leute machen  nur eines daraus.“ Und weiter: „Warum sollte

ich in eine höhere Abteilung wollen? Sind Sie nicht auch

Gefreiter geblieben, ohne Offiziersallüren? Sehen Sie, so eine

Art Gefreiter bin auch ich und will es bleiben. ich habe so

wenig Appetit zum Offizier wie Sie, ich will mit dem Volk leben und

in ihm verschwinden. Das ist das Passendste für mich.“


                                   Martha Dubs kam 1946 in die Anstalt –

zunächst als Sekretärin der Direktion, dann als Sozialhelferin.

Sie war damals 27.

      „Ich glaube schon, früher war man schon – in der Klinik

war alles viel geschlossener und die Kontakte nach aussen waren

nicht so frei wie heute.“

      „Also das Haus 1 soll ja offen geführt worden sein?“

      „Damals noch nicht. Damals war es noch ein

geschlossenes Haus.“

      „Was heisst das konkret?“

      „Die Haustüren waren damals noch geschlossen.“

      „Man musste läuten, wenn man hinein wollte?“

      „Ja.“

      „Und man musste den Pfleger rufen, wenn man hinaus wollte?“

      „Ja.“

      „Waren die Fenster im Parterre vergittert?“

      „Die Fenster waren nicht vergittert, aber geschlossen.“

      „Was waren das für Patienten im Haus 1?“

      „Es waren – ruhige Patienten, die zum Teil zur Beobachtung

hier waren, neu oder freiwillig eingetreten waren und

auch solche, die hier längere Zeit behandelt wurden, auch

einigermassen ruhig waren – und angepasst.“

      „Ist das ein Sonderfall – also Walser, der 23 Jahre hier war?

Oder haben Sie ähnliche Personen, die solange bleiben...

und sogar hier sterben?“

      „Das gibt es auch heute noch, ja.“

      „Ist also wiederholbar?“

      „Ja.“

      „Walser hat in Herisau noch gelesen. Er hat – und zwar

Triviales, Marlitt. Wer hat damals die Anstaltsbibliothek

geleitet und wie ging das zu und her, dieser Bücherverkehr?“

      „Damals war ein Patient, der die Bibliothek geführt

hat – der war zugleich Buchbinder. Und es war ihm sehr daran

gelegen, dass alles schön ordentlich war, aber – äh –

literarisch... ich glaube, seine Interessen waren nicht sehr gross.

Und die Patienten mussten einfach aufschreiben, was

sie gerne wollten aus der Bibliothek, und er hat dann die Bücher

herausgegeben.“

      „Walser hat gerne in alten Zeitschriften geblättert. Gab

es da archivierte Zeitschriften oder waren es einfach

Zeitschriften, die noch herumlagen?“

      „Nein, damals wurden alle Zeitschriften fein säuberlich

eingebunden und wir hatten noch Jahrgänge aus dem

letzten Jahrhundert von Fliegenden Blättern und Gartenlaube

und alles mögliche.“

      „Dann wäre es also möglich, dass Walser also bewusst

ältere Zeitschriften aus seinen früheren Tagen hier

nochmals durchgesehen hat? Gab es da deutsche – zum

Beispiel aus den Zehner- oder Zwanzigerjahren?“

      „Also da müsste ich im Katalog nachschauen.“

      „Also Die fliegenden Blätter waren vorhanden...“

      „Ja.“

      „Und die Schweizer Illustrierte, die Zürcher Illustrierte?“

      „Und Die Garbe von 1918 an.“

      „Und er hat speziell ausgeliehen Die fliegenden Blätter?“

      „Ja, und Die Gartenlaube, ja... da waren noch drei

Jahrgänge – bis 1920, Geist und Arbeit.“

      „Es wäre also denkbar, dass er sich mittels dieser alten

Zeitschriften ein bisschen zurückversetzt hat in eine

Zeit, in der es ihm sehr gut ging eigentlich. Gab es im Archiv

Dokumente, Schwesternrapporte zum Beispiel?“

      „Ja, es gab noch Schwesternrapporte. Und da ist mir

aufgefallen, dass Herr Walser – dass geschildert

wird, wenn er von den Spaziergängen mit Carl Seelig zurückkam,

dass er immer besonders vergnügt war. Und besonders

aufgeräumt.“

      „Walser soll ziemlich stark geraucht haben.“

      „Ja, er hat viel selber Zigaretten gedreht. Die Mitpatienten

erzählen sogar, dass er – Zigaretten, die er geschenkt

bekommen habe, habe er wieder aufgedreht und dann neue

angefertigt – und zum Teil auch mit Zeitungspapier.“

      „Gab es noch andere Beschäftigungen von Walser hier?“

      „Ja, er hat damals leidenschaftlich Kreuzworträtsel

gelöst. Und er habe sie immer fertig gelöst, bis zum letzten Wort –

und in jeder erreichbaren Zeitung habe er die

Kreuzworträtsel herausgesucht.“

      „Was hat Walser zurückgelassen?“

      „Die Angehörigen haben gewünscht, dass man noch

Andenken und die Uhr und was er so hatte, noch

Bücher... ihnen schicken möge, die Kleider möchten wir hier

behalten. Da waren noch drei Bücher in seinem

Nachlass, unter anderem Der Gehülfe, sein eigenes Buch, und

dann noch zwei Bücher von einem Erfinder, an den Titel

erinnere ich mich nicht genau... und eine Barschaft

von 17.45 Fr.“ 

      „Wann haben Sie zuerst erfahren, dass er gestorben ist?

Es war ja an einem Weihnachtstag... – vielleicht waren

Sie gar nicht da?“

      „Nein, ich war am Weihnachtstag auf Besuch in Zürich.

Dort hab ich das gehört am Radio.“

      „Das kam am gleichen Tag am Radio?“

      „Das kam am Weihnachtstag am Radio...“

      „Was hatten Sie für ein Gefühl dabei?“

      „Ja, ich konnte es fast nicht glauben, weil ich ihn – kurz vorher

noch gesehen hatte.“

      „Aber er war ja immerhin schon 78, und das war doch

für damalige Verhältnisse ein hohes Alter.“

      „Ja, ja. Aber ich hatte ihm kurz vorher noch für Weihnachten

Einkäufe gemacht im Auftrag von Herrn Seelig. Und dann

war ich ganz erstaunt, als ich das hörte.“


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