Philip Mercier, Handel, circa 1730. Händel schenkt das Portrait
1748 Thomas Harris, dem Rechtsanwalt in Lincoln‘s Inn, der ihm
sämtliche Testamente aufsetzt – bis auf das letzte, in dem
Händel ihn selbst als Begünstigten einsetzt. 1739 schreibt James
Harris in Salisbury L‘Allegro, il Penseroso und schickt
das Libretto an seinen Bruder Thomas, der es zu Händel bringt.
Jeder eine Fackel in der Hand weiter zurück
L‘ALLEGRO, IL PENSEROSO
Spielt Jennens eine Doppelrolle, von Anfang an?
Und verdeckt er das mit der Zusicherung, Händels Anweisungen nicht überall zu folgen? Jennens überschätzt sich. Und, was für sein Selbstverständnis schlimmer ist, er irrt.
Neil Coke, Jeder eine Fackel in der Hand. Roman.
Dienstag, 15. Januar 1740
Diese Meinung teilt er nicht
Das ist Oper, wie sie sein soll – Musik und Theater in perfekter
Harmonie! Giulio Cesare in Egitto, wie Händel ihn im
King’s Theatre 1724 herausgebracht hat, wundervoll besetzt
mit Francesca Cuzzoni, Sopran, Cleopatra, Margherita
Durastanti, Sopran, Sesto, Senesino, Alt, Giulio Cesare, Gaetano
Berenstadt, Altkastrat, Tolomeo, Anastasia Robinson,
Kontralto, Cornelia, Giuseppe Boschi, Bariton, Achilla.
Ein Plot, der inspiriert. Das Libretto, eine Intrige,
eine Liebesaffaire, beteiligt zwei der berühmtesten historischen
Figuren der Antike. Kaum eine schwache Nummer.
Eine Frau, Cleopatra, dominiert die Oper, acht Arien hat sie,
jede mit neuer Facette ihrer Persönlichkeit.
Jennens teilt diese Meinung nicht. Da ist ihm Shakespeares
Tragödie Julius Caesar zu teuer. Aber bei Partiturkopien
italienischer Opern, die Edward Holdsworth in seinem Auftrag
anfertigen lässt, wenn er wieder mal auf der Grand tour
ist, besteht Jennens auf Vollständigkeit.
„Damit wir sie aufführen können, wenn sie es verdienen”,
sagt Jennens. Es ist ein kalter, sonniger, launiger, früher
Winternachmittag, als sie das Themseufer erreichen,
und Holdsworth fragt: „Könnt ihr nicht Opernpartituren nur
sammeln? Müsst ihr sie aufführen?”
Jennens antwortet: „Ach, ich liebe es. Seit ich ein Junge
bin, liebe ich es aufzuführen.” Die beiden Männer sind auf der
Böschung stehen geblieben.
Jeder will das Wunder erleben
Sie schauen auf das Eis hinaus. Unten liegt der gefrorene
Fluss. Das nächste Stück Uferweg ist vereist, und Holdsworth
zögert und blickt zu Jennens hin, der voraus geht. Und
Holdsworth lehnt sich an ihn. „Aber, mein Herr”, sagt er.
Und Jennens erwidert: „Ich denke, es ist doch sonst auf der
Welt nichts los.” Er hält Holdsworth fest und kneift ihn
in die Hüfte. Holdsworth hält den Schritt an. „Wir haben Krieg”,
sagt er. „Ist das etwa nichts?”
Dazu äussert sich Jennens nicht. „Italienische Opern”, sagt er,
„haben meist einen Stempel ab. Sie sind unzulänglich,
in der Moral wie in der Handlung, ohne Kunst erdacht, ohne
Geist ausgeführt, und die Harmonie ist dünn –”
Vorne, beim Treppenabgang, der Menschenknäuel!
Volk jeden Alters und Geschlechts ballt sich, drängt und pufft.
Jeder will bei der Sensation des Jahrhunderts dabei
sein, jeder will das Naturwunder, The Frost-Fair, die gefrorene
Themse, miterleben.
Holdsworth sagt: „Ich möchte den Sammler sehen,
der um des Sammelns willen sammelt. Jeder will sich doch
selber inszenieren.”
Die zwei Männer, von einem Schwarm lärmender Kinder
überholt, langen unten an der Treppe an, und Holdsworth klopft
sich lachend auf die Schenkel und sagt: “Hier sind wir also.
Auf dem Rummel!”
Aber Jennens hat ihn nicht verstanden. „Inszenieren?”
sagt er. „Die Musik oder euch selbst?” Holdsworth tritt vorsichtig
aufs Eis. „Beides”, sagt er. „Ihr könnt es nicht trennen.
Es ist immer beides.”
Jennens hört nicht mehr zu, er schlittert schwungvoll
aufs Eis hinaus, alles auf der Themse ist lärmig, gleitend und
fröhlich, im Wind verliert sich die Stimme von Holdsworth.
„Diese Rastlosigkeit...” „Es ist euch nicht gegeben...” „Könnt ihr
die Partituren nicht einfach angucken?”
Musik und Theater in perfekter Harmonie
Giulio Cesare in Egitto zeigt Jennens, wie der Hase läuft. Der
Hase? Händel ist ein Fisch, er geht durchs Netz, aber
von Tierkreiszeichen hält Jennens nichts, sein Geburtsdatum
verschweigt er. Gerade erst hat er L’Allegro, Il Penseroso
an Händel vermittelt.
Der Libretto-Entwurf von James Harris hat nichts,
aber auch wirklich gar nichts von Giulio Cesare in Egitto und Oper,
wie sie sein soll, und die Frage, die Jennens sich stellt, ist:
Was macht Händel, der Musiker, der Komponist, der Opernunternehmer, der im Mischwasser der Bühnenpraxis lebt,
wenn ihm das Gegenteil unterkommt? etwas, wo Musik
und Theater mangelhaft harmonieren?
Händel hat das Libretto aus Salisbury bekommen
und gelesen, was James Harris voller Erwartung nach London
geschickt hat, aber was zwischen Fröhlichkeit
und Nachdenklichkeit an poetischem Zauber auch sein
mag, Händel ist es zu verblasen, er sieht kein
bühnentaugliches Leben, bestenfalls Mental Theatre,
ein Poem der Vorstellungskraft.
Mit der Auswahl nicht glücklich
Heute ist Dienstag, 15. Januar 1740. Jennens hatte sich
im Haus Queen Square 8, das seinen Schwager William Hammer
gehört, gleich am Morgen hinsetzen wollen, aber es war
später Vormittag geworden, bis er sich wirklich hingesetzt hatte.
Hier, bei seiner Schwester Esther, wohnt Jennens,
wenn er in der Stadt ist, und das ist er über Winter
immer. Sein Pianoforte, mit dem er nie zurechtkommen wird,
steht im grossen Salon. Er hat sein eigenes Zimmer,
er hat sein eigenes Schreibpapier, und Federkiele und Siegellack
hat er sich gerade eben besorgt.
Er hat nicht viel Zeit, leckt mit der Zunge über die
Lippen und tunkt angriffslustig die Feder in die Tinte. Er schreibt
an James Harris in Salisbury:
Ich brachte die Papiere am Freitagmorgen zu Mr. Händel.
Mit eurer Auswahl schien er nicht ganz glücklich,
da er zuviel von dem Penseroso beisammen habe, was eine
Menge ununterbrochener, schwerlastiger Musik mit
sich bringe und das Publikum ermüde.
Er sagte, er stelle sich eine mehr ins Detail gehende
Aufteilung vor. Die liess ich ihn aufgrund eurer Textvorlage machen,
und heute Morgen brachte er mir den neugegliederten
Text I, an dem ich einige Korrekturen anbrachte, die hauptsächlich
Schreibfehler von Smith betrafen, und er nahm ihn mit
grosser Befriedigung wieder mit.
Ich vermute, er hat sich zuhause gleich hingesetzt und
ihn sofort vertont. Ich glaube, er war des ersten Teils
überdrüssig, er unterhielt sich mit mir nämlich nur über Teil II und
sagte mir, was er dazu dachte, und überliess es mir,
die Gedanken dazu auszuformulieren.
Ich werde aber seinen Ausführungen nicht überall
folgen, denn es ist eine faule Macke von ihm,
wenn er Auslassungen vorschlägt. Ich denke, er tut es aus dem
einzigen Grund sich die Mühe der Vertonung
zu ersparen.
Solyman the Magnificent
Jennens faltet das Papier, drückt sein Siegel in den Lack,
den er erhitzt hat, und steckt den Brief ein. Er ist eitel,
der Brief geht an James Harris, der ihm nicht das Wasser
reichen kann.
Für die Bediensteten in Gopsal ist Jennens in jüngeren
Jahren eine Nummer für sich, das Hauspersonal nennt ihn ob
seiner glanzvollen Equipage, der Hülle und Fülle seines
Tisches und all des Pomps Solyman the Magnificent.
Spielt er, was James Harris angeht, eine Doppelrolle,
von Anfang an? Und verdeckt er das mit der Zusicherung Händels Anweisungen nicht überall zu folgen?
Aber Jennens überschätzt sich und, was für sein
Selbstverständnis fast noch schlimmer ist, er irrt. Händel setzt
sich nicht gleich hin, als er mit den Papieren abgezogen
ist. Er vertont L’Allegro, Il Penseroso nicht sofort.
Er bringt bestenfalls ein paar Entwürfe zu Papier, aber mit der
Vertonung lässt er sich Zeit.
Möglicherweise überzeugt Händel auch die Neufassung,
die er inzwischen vorliegen hat, noch immer nicht. Zu
respektvoll ist ihm die Montage der Textvorlage, zu dürftig die Vermischung von Fröhlichkeit und Nachdenklichkeit,
die Spiegelung des einen im andern.
Was Händel vorschwebt, ist ein Cocktail aus Verdichtung,
Frische und Überraschung, ein Wechselspiel, ähnlich dem
Stoff, den die Franzosen changeant nennen und der seinen je nach
Lichteinfall verblüffenden Effekt dem Trick verdankt, einen
farbigen Faden abwechselnd mit einem schwarzen zu verweben.
Er greift stark ein
Was Händel fehlt, sind sich rasch ablösende, verblüffende
Stimmungen, Launen und Temperamente, was Händel
vermisst, ist die Leichtigkeit, die abrupt in Schwermut fällt, das
Allegro & penseroso, das Händel in sich selbst spürt.
Es ist das, was die Widersprüche kennzeichnet, die
Zeitgenossen an Händel ausmachen, wenn sie ihn witzig und
mürrisch nennen. Er ist beides zugleich.
Händel gestaltet das Libretto um, er greift stark und
bestimmend ein, zerbricht die Einheit im Text, an der Harris festgehalten hat, und zerlegt Miltons zwei Gedichte
L’Allegro und Il Penseroso in Einzelteile, die kleiner sind als
in der Vorlage von James Harris.
Händel bringt Abwechslung hinein, verstärkt die
Gegensätze, regt einen dritten Teil an, wo zum Finale ein
Gleichgewicht sich einstellt, dazu schlägt er Miltons
Gedicht At a Solemn Musick vor, das die Erfahrung Musik
zu hören beschreibt.
Jennens glaubt nicht recht gehört zu haben. In der
Musik sieht Händel die Versöhnung der Gemüter? Dagegen
verwahrt sich Jennens, das reicht ihm nicht. Er ist
nicht der Mittelsmann zwischen Harris und Händel. Vermitteln
ist nie seine Absicht gewesen. Er handelt auf eigene
Rechnung.
Er setzt bei Händel Druck auf ohne Harris
zu kontaktieren, er setzt Il Moderato durch, einen dritten
Teil, den er selbst beisteuert. Aber geht das
überhaupt? Die Verszeilen von Jennens auf einer Stufe mit
denen von Milton? Er sieht das Gefälle nicht,
er betrachtet es von der Sache her, er argumentiert,
Il Moderato beziehe sich eher auf die Sache,
aber was ist hier Sache?
Seufzer des Entzückens
L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato. Das ist das Libretto,
das Jennens durchdrückt. Möglicherweise denkt
Händel im selben Augenblick schon daran, Il Moderato
einfach wegzulassen, wie er es später getan hat.
Und Sache ist auch, dass Händel erneut
das Glockenspiel unterbringt, das er vor einem Jahr in Saul
eingesetzt hat, was ihm alle Häme eingetragen hat,
derer Jennens fähig ist. Das vorsintflutliche Instrument,
mit dem Händel den armen Saul vollends in den
Wahnsinn treibt?
Es scheint, Händel liebt das Carillon. Vor einem
Monat hat er das Glockenspiel in die Wiederaufnahme von
Acis and Galatea eingebaut, zuvor bereits in Trionfo
del Tempo. Er nimmt im Rücken die Seufzer des Entzückens
aus dem Publikum wahr, wenn er die Tasten bedient.
Er hat das Carillon rechts auf der Bühne in die Nähe von
Cembalo und Orgel gerückt.
Jennens irritiert das Carillon. Dass Händel voller Macken
ist, sieht Jennens nicht anders als vor einem Jahr,
jedenfalls regt sich in Jennens der alte Verdacht. Händel
hat die Neufassung zu L’Allegro, il Penseroso
ausgehändigt bekommen und steigt aufgeräumt in die
Kutsche, die ihn mit dem Libretto heimbringt.
Vorletzte Nacht, am Ende von Old Jewry
Die Strassen sind glatt, es kommt zu ersten Unfällen, draussen
werden am Morgen Erfrierungstote weggeschafft.
Gegenüber von The Falstaff’s Head Tavern hatte Mrs. Burlow
sich auf dem Nachhauseweg ein Bein gebrochen,
als sie sieben Uhr abends auf das Kopfsteinpflaster
gestürzt war.
Und in Green Lattice Lane, Cannon Street, hat ein
Gentleman, der nicht genannt sein will, eine Ladung Holzkohle
zum aktuell extravaganten Preis gekauft. Er teilt sie
in zwölf Teile auf und lässt sie zu armen, ihm bekannten
Leuten bringen, mit der strikten Auflage an die
Überbringer nicht zu erwähnen, von wem die Holzkohle kommt.
Am Ende von Old Jewry ist vorletzte Nacht
eine Gentlewoman, als sie ein über den Rinnstein gelegtes
Brett passiert hat, um ihre Tasche mit Schnupfdose,
Silber und Münz erleichtert worden.
Mehrere, in der Themse liegende Tender haben
Order bekommen, sobald das Wetter es zulässt, zum Kanal
auszurücken, um Männer für den Kriegsdienst Ihrer
Majestät einzuziehen.
Die am Fluss zwischen Midway und London
Bridge angerichteten Frostschäden belaufen sich nach
vorsichtigen Schätzungen auf über 166 000 Pfund,
von den zahlreichen Personen abgesehen, die ihr Leben
verloren haben.
An der Westminster Bridge hat das Eis mehrere
Pfeiler und Balken weggebrochen und davongetragen, die
jetzt in der Themse treiben. Wer einen oder mehrere
Pfeiler oder Balken bei Kommissar Wharf in Stangate, County
of Surry, abliefert, erhält eine Belohnung von fünf Shilling
für jeden Pfeiler oder Balken.
Wer Wahrnehmungen über Personen mitzuteilen
hat, die einen Pfeiler verbotenerweise in Stücke
gehauen, gestohlen oder aus dem Fluss geborgen haben,
erhält fünf Guineas Belohnung, die nach Verurteilung
des oder der Beschuldigten ausbezahlt werden.
Geklaut, was das Zeug hält
„Et voilà, wir sind auf dem Rummel!” sagt Holdsworth,
als er jetzt neben Jennens auf dem Eis der Themse steht. Zelte
und Hütten waren letzte Woche bei Whitehall, Fulham
und an mehreren anderen Plätzen errichtet worden, und die
Londoner suchten sie begeistert auf und sahen sich
auf dem Eis um.
„Letzten Samstag ist Mr. Cunningham –”, sagt
Holdsworth und dreht sich nach der Frau mit
beigem Kopftuch um, die sich in der Menge an ihn
herangedrängt hat.
„– letzten Samstag ist Mr. Cunningham von
Fulham mit einem Pferd auf dem Eis nach Hammersmith
galoppiert und wieder zurück. Es ist um eine Wette
von zwanzig Guineas gegangen, eine Stunde haben sie Mr.
Cunningham eingeräumt, aber er hat es in
fünfundvierzig Minuten geschafft.”
Neben Holdsworth quengelt in der Menge
ein Kind, die Mutter nimmt es auf den Arm und redet ihm zu.
„Seid vorsichtig”, sagt Jennens und schaut der
Frau mit dem beigen Kopftuch nach, die im Getümmel
verschwindet. „Hier wird geklaut, was das Zeug hält.”
Letzten Samstag überquerten mehrere
tausend Personen erstmals die Themse auf dem Eis.
Ein Tross gewiefter Verkäufer und Händler errichtete
zwischen Old Swan und Pepper Alley Stairs bei
der London Bridge mehrere Zelte, aber einige Männer und
Jungen kamen den Eisbrechern der Brücke zu nahe,
das Eis brach ein und sie ertranken.
Der Ochse von Smithfield
„Da ist der Ochse von Smithfield”, sagt Holdsworth.
Weinhändler vom Strand haben den Ochsen herbeigeschafft
und rösten ihn am Spiess auf dem Eis. Erstanden haben
sie den Ochsen am Viehmarkt in Smithfield, der Montag und
Freitag abgehalten wird und ohne Frage, sagt Defoe in
Tour thro’ the Whole Island of Great Britain, der grösste in der
Welt ist, jedenfalls so gross, dass eine Kalkulation der
Anzahl von Pferden, Ochsen, Kühen, Kälbern, Schafen etc.
nicht zu schaffen ist.
„Ist es der Ochse vom Freitag?” sagt Holdsworth,
an Jennens gewandt. „Wir haben jeden Tag einen neuen Ochsen,
mein Herr”, sagt der Mann am Stand, der Holdsworth
gehört hat, und lacht. „Das ist unser vierter Ochse, unser vierter
Ochse seit Freitag. Bei uns und nur bei uns erhält ihr den
Ochsen am Spiess stets knusprig und frisch.”
Ein Windstoss fegt in die Zeltplane, und der Rauch zieht
der Menge, in der Holdsworth und Jennens abgedrängt werden,
tief ins Gesicht. „Frisch gerösteter Ochse!”, ruft der Mann
am Stand, bereits einiges entfernt. „Ochse am Spiess!” Noch ein Windstoss, ein Ah und Oh, das durch die Menge geht, das
Getümmel nimmt zu.
Hier drängt alles hin, wirklich alles, Hunde inbegriffen.
Hier, in der Engnis der Hütten, Buden und Zelte, hier, wo die Amüsiermeile aufgebaut ist, The Frost Fair, der Lunapark
auf der Themse, hier, wo Händler, Marktfahrer, Schausteller sich
in bester Lage in Stellung gebracht haben, bei strahlender Nachmittagssonne und blauem Himmel.
Except what you have forgotten
Der Duft heisser Crème caramel stösst Jennens
in die Nase. Hier, wo der Marktrummel auf dem Eis am
dichtesten ist, hier, wo es die Besucher mit allen
Sinnen zu den Versprechen der Festplatzfreuden hinzieht,
Gebäck, Pudding, Glühwein, Hot chocolate, Punch.
Cooky Cones, Peach Pie, Sweet Potato Fritters, Apple Pie,
Brandied grapes, Black Walnut Divinity.
Jennens ist vor einer Auslage stehen geblieben.
„Schaut mal”, sagt er und zieht Holdsworth am Ärmel. „Black
Walnut Divinty, ich glaub’s nicht!”
Eine zwölfjährige schwarze Schönheit steht am
verlassenen Stand und lächelt wie eine Erwachsene, die nie
ein Kind gewesen ist.
Die puffende, fröhliche, gierige Schlange der Schlemmer
drängt zum Stand nebenan. „French dessert! The best
petits fours ever! There is nothing new except what you have
forgotten. The best petits fours ever! French dessert!”
Eine Blondine, hochgestecktes Haar, lange, weisse Handschuhe,
halb bedient sie, halb hält sie die Menge in Schach.
„She is Kitty Clive on Ice”, sagt Jennens, der die Black
Walnut Divinity vergessen hat, aber das Gedränge
bei den petits fours ist ihm zu gross, die Schlange zu lang.
Was meint ihr? Petit fours?
Er geht mit Holdsworth auf das Feld dahinter. Hier,
wo das Eis freier wird, gibt es Kegeln für Ladies, Bowling für
Gentlemen, gebackene Kartoffeln für Supporter,
die sich die Hände wärmen.
Und noch einmal dahinter, wo die Schaukel wartet,
das Karussell, das Puppentheater, diesen Nachmittag neu
eröffnet, gibt es Eselrennen, Pferderennen,
Wagenrennen, Kutschen, die mit Liebespaaren besetzt
zwischen Blackfriars und Westminster übers Eis
knirschen.
Das Eis wird weit und leer, junge Männer
ohne Frauen jagen einem Fussball oder einem Hockeypuck
hinterher. „Mir ist das fremd”, sagt Holdsworth
und dreht ab.
Jennens hält inne. „Was meint ihr?” sagt er.
„Petits fours?” Aber Holdsworth hat die Preise gesehen.
„Wir lassen’s”, sagt er. Alles ist zu haben, der
ganze Schmatzckes, alles zu erhöhtem Preis, wo sie
doch schon Eintritt bezahlt haben.
Ein Vater steht mit sieben Kindern neben Jennens
und macht sich seinen Reim: „What you can buy
for threepence on the shore, will cost you fourpence on the
Thames or more.”
We really should have had dessert
Natürlich muss das Ereignis festgehalten werden, besonders
Findige haben eine Druckerpresse aufs Eis geschleppt,
sie drucken Souvenirblätter, die sie von Hand datieren:
Frost Fair. Printed upon the Ice on the River Thames.
Unwirklich sieht sie drauf aus, the good, old Mother
Thames, wellenförmig bewegt wie ein Fluss im Theaterprospekt,
die glatte Fläche in Abständen übersäht mit vom Sturmwind festgeballten Bändern von Eisschollen.
Holdsworth betrachtet das Blatt noch, da flitzt ein Junge
mit Stock und Puck, von einem Bernhardinerhund verfolgt, an ihm vorbei und plötzlich liegt Holdsworth auf dem Hintern
auf dem Eis, Jennens reicht ihm die Hand, Holdsworth rappelt
sich auf und greift ans Knie, der Sturz hat weh getan,
und Jennens sagt: „We really should have had dessert!”
Frisch ab Presse von der Themse
Aber jetzt, mit einem Mal, interessiert die zwei Männer
der Rummel auf dem Eis nicht mehr. Nicht, dass
ein Konkurrent den Ochsen am Spiess in der Nähe der Pepper
Alley Stairs kontert, indem er Lapland Mutton anbietet,
auf Holzkohle gegrilltes Lamm.
Nicht, dass sie dem wildgewordenen, ausgefuchsten
Haufen der Gewerbetreibenden, der hier ihre Buden errichtet
haben, wie alle anderen auf den Leim gekrochen sind.
Nicht, dass die Schausteller, Händler und Marktfahrer
ihre Zelte in Ufernähe bauen, aus Angst, Landeigentümer
könnten ihnen nachts plötzlich einen Besuch abstatten.
Nicht, dass am Zelt der Druckerpresse das Konterfei
des im letzten Jahr mit siebzig verstorbenen Richard (Dicky)
Dickinson zu haben ist, wofür in The London Daily Post
geworben wird:
Neu gedruckt auf dem Themse-Fluss und heute veröffentlicht,
Preis 6 Pence: Ein wahrheitsgetreues, denkwürdiges
Bild des kürzlich verstorbenen, berühmten Dicky Dickinson, Gouverneur von Scarborough Spaw.
Mit poetischer Beschreibung von Person und Charakter,
von ihm selbst verfasst. Verkauft von Hawkins an den Zelten auf
dem Themse-Fluss bei Whitehall Stairs und an den
Pamphlet-Verkaufsstellen von London und Westminster.
Ihr geht auf Eis
„Übrigens”, sagt Jennens. „Ich bin gestern im Theater
gewesen, bei King Richard III im Drury Lane. Ein einziger
Etikettenschwindel!” „Wieso? Wieso Etikettenschwindel?”
fragt Holdsworth, der wie in Deckung hinter
Jennens hergeht.
„Wirklich, es ist Zeit Shakespeare komplett neu
herauszugeben”, sagt Jennens, rutscht aus und fängt sich
zuletzt. „Ihr seid auf Eis”, sagt Holdsworth und lacht.
„Ich bin aus dem Drury Lane weggegangen,
angewidert, abgestossen, verärgert“, sagt Jennens, noch
immer etwas unsicher auf den Füssen.
„Ihr meint, ihr müsst Shakespeare komplett neu
herausgeben?” fragt Holdsworth, aber meint es wirklich nur
im Scherz. Jennens hat sich aufgerichtet, er hat das
sichere Ufer erreicht. „Soweit bin ich noch nicht”, antwortet er
in allem Ernst. Das ist eine gute Idee, glaubt
Jennens. Er wird Shakespeare komplett neu herausgeben!
Er lebt nicht, was er spielt
James Quin hat King Richard III gegeben,
er hat auf der Bühne gesagt, nein behauptet, nein deklamiert:
„I am myself alone!” Aber das ist alles für nichts,
glaubt Jennens. Quin tritt zu häufig auf. Er lebt nicht, was
er spielt.
Am Samstag ist Quin in der Komödie Aesop aufgetreten,
der Vorstellung wohnen Prince und Princess of Wales
bei. Am Donnerstag hat er die Titelrolle in Comus gegeben, mit
Beard als Bachus, das Drury Lane Theatre bewirbt die
Aufführung in The London Daily Post:
Auf speziellen Wunsch mehrerer Persons of Quality
wird morgen von der Company of Comedians Ihrer
Majestät im Theatre Royal in Drury Lane eine dramatische
Oper, genannt Comus, aufgeführt, bearbeitet nach
Miltons Masque in Ludlow Castle und für die Bühne adaptiert.
Comus Mr. Quin, Älterer Bruder Mr. Milward,
Jüngerer Bruder Mr. Wright, Erster Geist Mr. Mills, Zweiter Geist
Mr. Cashell, Lady Mrs. Mills, Euphrosine Mrs. Clive,
Ein Bachus Mr. Beard, Babrina Mrs. Arne.
Die Musik hat Mr. Arne komponiert. Mit Original-Epilog,
auf vielseitigen Wunsch durch Mrs. Clive in der Rolle von
Euphrosine gesprochen.
Die Tänze werden aufgeführt von Monsieur Denoyer,
Mademoiselle Chateauneuf, Monsieur Muilment, Mr. Livier,
Mr. Baudouin, Mr. Rastor, Mr. Davenport, Mr. Cook,
Mr. Carney, Mr. Walter, Miss Thompson, Mrs. Wright, Mrs.
Woodward, Mrs. Davenport and Misses Vallois.
Dazu gibt es im Beiprogramm
The King and the Miller of Mansfield.
Habt ihr nicht kalt bekommen?
Jennens geht mit Holdsworth die Böschung entlang.
Und da steht auch schon die Kutsche, die Jennens zum
voraus hierher bestellt hat. „Habt ihr nicht kalt
bekommen?” fragt Jennens. Holdsworth schüttelt den Kopf.
„Von unten, von den Füssen her?” fragt Jennens.
Holdsworth hält sich das Knie. Jennens blickt
nochmal zurück zur Themse. Die Budenstadt, aus der
Entfernung erbärmlich winzig, verblasst im Dunst.
Die Sonne ist dünn geworden. Das Geschrei der Menge
verliert sich über dem Eis, das die Stadt in einen
unwirklichen Zustand erhebt.
Das Letzte vom Krieg liest Jennens, als er glücklich nach
Hause zurückgekehrt ist. In The London Daily Post steht:
Die Spanier kapern ein Schiff, das aus Philadelphia unterwegs ist.
Die Lords der Admiralität erreicht die Nachricht, das
Kriegsschiff St. Albans, Captain Cornwall, unterwegs aus
Lissabon, sei in Portsmouth eingetroffen.
Jeder eine Fackel in der Hand weiter zurück