Rike Mohaupt   weiter   zurück



KEIN LICHT



               Fritz Hirzel, Rike Mohaupt. Roman. Kapitel XI


ES IST NICHT IMMER, WONACH ES AUSSIEHT. ES IST NICHT  immer, was einer sich vorstellt, wenn er einen Termin mit

einem potenziellen Partner wahrnimmt, es kann auch anders

kommen. An einem Balken, im Loft am Union Square,

hat Stephen Wagoner sich erhängt, und Steamboat, eigentlich gekommen, um Möglichkeiten für Art and Wine zu sondieren,

hängt ihn ab. Der Mann ist schwer! Steamboat hat ihn plötzlich auf

sich oben liegen. Er befreit sich. Er wählt 911. Wagoner

wird in ein Spital eingeliefert. Es stellt sich heraus, es ist das

Beth Israel Medical Center, in das er gebracht worden ist,

ein 940-Betten-Spital, First Avenue, 16th Street. Es stellt sich

heraus, das Verhältnis zwischen Suizid und Bankrott

ist in NYC eine statistisch relevante Grösse in diesen Tagen.„Weinmarketing?“ fragt der Notfallarzt, als er beim

Ausgang steht, vor dem Firmenschild im Loft am Union Square.

„Ist das ein Beziehungsdelikt?“ Der Loft wird polizeilich

versiegelt. Steamboat muss mit auf den Posten.

wo er zum dritten Mal seine Geschichte erzählt, jetzt einer Polizeidetektivin, Anfang vierzig, grüne Augen, dunkelblondes, kurzes

Haar. Sie spricht gerade in das Telefon, das ein Kollege, ein

langgewachsener Rotschopf, ihr übergeben hat. Dann macht sie

Schluss, sie blickt Steamboat an, sie lächelt, sie sagt: „Er hat

überlebt.” Steamboat atmet auf, er kann gehen, er steht vor dem

Polizeiposten auf der Strasse, er wankt, ihm ist schlecht,

er denkt, er ist der Mann, der in dem Witz auf dem Bürgersteig

torkelnd einen Passanten fragt, Can you tell me, where

am I, where am I? Und der Passant sagt, You are 233 West 10th

Street, aber der Mann winkt ab. Just the City, sagt er,

just the City. Steamboat weiss, es ist Dienstag, 9. Februar 2010,

ein kalter, tiefschattig klarer, sonniger Nachmittag geht

zuende, Bewölkung ist aufgekommen, es beginnt bereits zu

dämmern, er hat nichts gegessen, er ist klebrig, ja, das

ist er, erhitzt, verschwitzt, klebrig. Er muss es abschütteln, denkt

er, alles abschütteln, langsam wird ihm bewusst, in was für

eine Falle er hineingeraten ist, er muss laufen, denkt er, er muss

ein paar Schritte laufen, er braucht Distanz, er beginnt

zu laufen, nur weg hier, denkt er, die 10th Street lang, am Laden

PureDark vorbei. Dunkle Schokolade pur, gewonnen aus

reiner Natur. Die Ampel steht auf grün. Er quert Bleecker Street.

Er torkelt. Backsteinhäuser. Gepflegtes Village. Wohngegend.

Edles Kleingewerbe. Eine Boutique. Ein Restaurant.

Er quert Waverly Place. Saint Germain, ein eleganter Neubau.

NYSC, New York Sports Clubs, breites Eckgebäude,

drei Etagen, unten Gourmet Garage. Die Ampel steht auf grün.

Er quert die Seventh Avenue. Grey Wolf Salon. Cookbooks.

Village Papers. Party Store. Café Asean. Pet Palace. Was hat er mit

Wagoner zu schaffen? Nichts. Wieder fällt der Erhängte

auf ihn herauf, Steamboat läuft, Pet Palace, denkt er, ein Witz

ist das, ein Albtraum, er muss entkommen, er muss es

abschütteln, alles abschütteln. Vor ihm geht eine Mittdreissigerin,

die einen Border-Terrier ausführt, plötzlich, ihm genau

vor den Füssen, stoppt der Hund, Steamboat stolpert über ihn,

die Frau ist gezwungen anzuhalten, Steamboat läuft

weiter, er blickt zurück, die Frau reisst an der Leine, blickt dem

Border-Terrier tief in die Augen und sagt in ernstem Ton:

„We are not going to the pet store right now.” Und, als der Hund

sich nicht vom Fleck rührt: „There is no way that is going

to happen.” Pet Store? denkt Steamboat, Pet Palace! Er folgt

der Ladenzeile. Adams West. Bambalulu’s. Think Pink.

Die Ampel steht auf grün. Er quert die Avenue of Americanas.

Ansonia Pharmacy. InVite Health. Vino E Cucina.

Das Kneipenschild, ein Wallholz. Die Ampel steht auf grün.

Ein Backsteinbau, vierzehn Etagen. Er ist an der 5th

Avenue angelangt. Er quert sie. Power Cleaners. Same Day

Service. Twenty One. Eine Wohnresidenz mit Baldachin.

Die Ampel steht auf grün. Er quert University Place. Ritter Antik.

Corcoran. Ein Immobilienmakler. Prudential. Noch ein

Immobilienmakler. Brittany Residence Hall. Noch

eine Wohnresidenz mit Baldachin. 24 hr Parking. Digital Society.

Er schwankt, er ist ausser Atem, er blickt ins Fenster

einer Chase Filiale, grösser, die meisten Geldautomaten in NYC,

more coverage, more confidence, in den Farben der

Corporate Identity, weiss auf blau. Warum ist er nur so gelaufen?

Warum immer die 10th Street lang? Hat er die Höhe

halten wollen? Er steht am Broadway, er blickt zur Grace Church hinüber, es hat leicht zu schneien begonnen, die das

Dämmerlicht schütter erhellende Strassenbeleuchtung ist

angeknipst. Ein schwarzer Teenager mit Rastalocken

zieht im Stakkato seines auf die Schulter gehievten Ghetto

Blasters an Steamboat vorbei, ein T-Shirt mit Aufdruck.

Behind every great man is a woman rolling her eyes. Nein, gerade

Glück hat er heute nicht, denkt Steamboat, ihn friert

plötzlich, er schlingt die Schärpe fester um den Hals, holt das

Handy aus der Manteltasche und ruft Fabio Calvani an.

Same Day Service. Fabio ist tatsächlich noch in der Galerie.

„Er ist doch ein Kunde? Ist er das nicht?” sagt Steamboat,

als er seine Geschichte zum vierten Mal erzählt. „Das gefällt mir

nicht”, sagt Fabio. „Wir hätten Art and Wine fallen lassen

sollen.” Ein nachdenkliches Schweigen. Und dann:

„Und überhaupt, was ist das? ein Selbstmordversuch? ein Erpressungsversuch?“ Es ist der Leuchtturm, denkt

Steamboat, er hat das Bild im Loft nicht gesehen, hat der

Insolvenzverwalter es behändigt? Er dreht sich um.

Ein Truck. Ein Bus. Zwei yellow cabs. Irgendwo heult eine

Polizeisirene auf und schwillt ab. Zurück bleibt der

brausende, tosende, durch ein zweifaches, helles, fast küssendes

Hupen kurz zerrissene, immerwährende Wellenschlag der

Strassen von NYC, die Pegelstandsanzeige fürs Ohr, er räuspert

sich, er sagt: „Du brauchst es Rike ja nicht gleich zu sagen.”

Fabio greift an die Stirn. „Nein”, sagt er. Ein tiefer Seufzer. Er ist entschlossen Rike gegenüber den Suizidversuch ihres Ex

nicht zu erwähnen, zumindest nicht gleich. „Nein, brauch ich nicht”,

sagt er, wie um sich zu vergewissern.



                                   Was machst du hier? Freitag, 26.

April 1942, Haberlandstrasse 7, Werkstatt im Keller.

August Mohaupt blättert im Buch Mit Hitler im Westen, das von

Fürich ihm zu Weihnachten geschenkt hat, zusammen

mit Sieg in Polen, Kampf um Norwegen und Sieg über Frankreich. Kampf und Sieg unserer herrlichen Wehrmacht, liest er,

schildern diese vom OKW und Heinrich Hoffmann herausgegebenen Erinnerungsbücher, er betrachtet das Bildmaterial, er

überfliegt die Bildlegenden. Der Führer vor dem Eiffelturm, dem Wahrzeichen der französischen Hauptstadt. Der oberste

Befehlshaber der Wehrmacht mit Generaloberst Keitel auf dem

Montmartre. Adolf Hitler vor dem Sarkophag von Napoleon I.

unter der Kuppel des Invalidendoms in Paris. Adolf Hitler verlässt

in Begleitung den Invalidendom in Paris. Er, Feldwebel

Mohaupt, hat es bis Paris nicht geschafft, er zündet eine Muratti

an, er raucht, er schaltet das Radio ein, er legt die Beine

auf die Hobelbank. Die Ansprache des Führers auf der letzten

Sitzung des Grossdeutschen Reichstags. Also, sagt

Hitler im Radio, die sogenannten Besitzenden von den Kellern des

Kremls bis zu den Gewölben der Bankhäuser in New York

gegen die Habenichtse, das heisst jene Nationen, für die eine einzige

schlechte Ernte Not und Hunger bedeutet, sagt Hitler im

Radio, und die bei allem Fleiss ihrer Bewohner in derselben Zeit

nicht das tägliche Brot zum Leben finden, in der in den

Staaten und Ländern der Besitzenden der Weizen, Mais und Kaffee

usw. verbrannt und verfeuert wird, nur um etwas höhere

Preise zu erzielen. Im Osten Europas aber liegt der Kampfplatz,

auf dem die Entscheidung fallen wird, sagt Hitler im Radio.

Plötzlich steht Else Mohaupt in der Tür, sie weiss nicht, dass ihr

Ehemann, August Mohaupt, 64, Hauswart, Nördlingerstrasse

3, Berlin-Schöneberg, Anzeige erstattet hat. Denunziation einer Ratte.

Sie weiss nicht, dass er Namen genannt hat. Dr. Bernhard

Gröttrup. Claire Waldoff. Willy Collin. Zersetzung der Wehrkraft.

Sie fragt: „Was machst du hier?” Er ist aufgestanden,

er sagt zu Else, die ihn schief anblickt: „Ich war in der Wohnung

der Lesben. Die leben in Saus und Braus. Und wir?”

Sie weiss, Alter schützt nicht vor Neid und Angst und Gier,

wenn das Leben einen scheinbar übergangen hat,

sie schüttelt den Kopf, sie sagt: „Also ich weiss nicht. Ein Zivilfahnder

hat nach dir gefragt, ein Kriminaloberassistent. Und ich bin

so blöd und verleugne dich.” Der Kriminaloberassistent, der bei

seiner Ehefrau vorgesprochen hat, ein gewisser Ernst

Zühlke, gehört zur Landespolizeidirektion, die vor dem Ersten

Weltkrieg an der Gothaer Strasse 19 erbaut worden ist.

Keine fünf Minuten Gehweg für August Mohaupt. Zum Erstaunen

von Else läuft er gleich los, als sei das Mittagessen ihm

nicht wichtig. Er wartet seit drei Monaten auf eine Bestätigung,

um nicht zu sagen Verfolgung und Wirkung seiner

Anzeige. Nichts ist geschehen. Claire Waldoff gastiert in der

Berolina, Alexanderplatz. Sie spielt im KaDeKo,

Kurfürstendamm. Kabarett der Komiker! Es ist ein Hohn. Er streift

den Bayerischen Platz, läuft die Grunewaldstrasse entlang,

quert die Martin Luther Strasse und biegt hinter dem Amtsgericht

in die Gothaer Strasse ein. Endlich, denkt er. Endlich wird

die Falle für die Ratte aufgebaut. Aber Ernst Zühlke, stellt sich

heraus, scheint anderes zu interessieren. Er sitzt, drahtig,

Flatterohren, Ellbogen angewinkelt, Kopf in die Hand gestützt,

an einem mit Akten überladenen Tisch, eisiger Blick,

bleiches Gesicht, hohe Stirn, er sagt: „Kennen Sie die Lange?” Mohaupt zuckt die Schultern, er ist überrascht,

er ist verlegen, er ist enttäuscht. Olga von Roeder? Warum

sie hineinziehen? Sie hat mit der Anzeige nichts zu

tun. Von ihr weiss er am allerwenigsten. Er hat das starke Gefühl

unstatthafter Nähe, er sagt: “Die, die mit der Schauspielerin

zusammenlebt?” Ernst Zühlke nimmt die Hand vom Kinn, er sagt:

„Hat Sie Gesellschaft?” Mohaupt zögert. Die hat er

nicht angezeigt, denkt er. Nicht Olga von Roeder. Er sagt:

„Gesellschaft? Ich weiss nicht, was Sie meinen.”

Ernst Zühlke blickt ihn bewegungslos an, er sagt: „Sie wissen

aber, dass sie eine Schwester hat. Und die hat einen

Mann.” Mohaupt kratzt sich, er rückt auf dem Stuhl, er stellt

sich dumm, er sagt: „Eigentlich kenne ich den

verwandtschaftlichen Hintergrund nicht so genau.” Ernst

Zühlke sagt: „Die Schwester der Langen ist Gertrud

von Weyrauch, geborene Baronin von Roeder, verheiratet mit

Eberhard Finckh. Der Ehemann ist bei der Wehrmacht.

Er ist Oberst im Generalstab. Das wissen Sie doch.” Mohaupt

blickt zu Boden, er greift mit Daumen und Zeigefinger

nach dem Schnurrbart, er lacht das kurze, schrille Mohaupt-Lachen,

er räuspert sich, er nickt, er sagt: „Ich weiss nicht.” Ernst

Zühlke sagt: „Wir brauchen etwas Material.”



                                   Arschkalt, wa?” Rike Mohaupt tritt

in dicker Winterjacke aus der Haustür, sie dreht sich im Halbdunkel

um. „Arschkalt, wa?” schnarrt Marcel Zühlke wieder. Er ist der

Nachbar, Quitzowstrasse 107, Vorderhaus, zweites OG. Er ist der Nachbar, der Fabio Calvani jedes Mal, wenn der ihm über den

Weg läuft, als “scheu” und “intellektuell” bezeichnet. Dann, Monate später, ein Freitag, es ist zehn Uhr nachts, nennt Zühlke

die Quelle seiner Erkenntnis. „Der Hauswart sagt, Sie sind ein

Intellektueller.” Es ist strenger Winter geworden in Berlin,

mit Schnee und Eis, die liegen bleiben, mit Frost, mit eisigem Wind,

der einer Joggerin am Westhafen ins Gesicht schneidet.

Tagelang kein einziger Besucher in der Galerie, wo Fabio die Ausstellung Smoke Signals mit zu Vaginen gebogenen

Neonröhren des kanadisch-italienischen Künstlers Jeffrey Lombardo eröffnet, Smoke Signals, ausgerechnet jetzt, wo die Stadt in

Nebeltunke abgetaucht ist, still, kleingemacht, stumm,

ohne Verlockung, unansehnlich, im Gegensatz zur geheimnisvollen

Vagina. Rike Mohaupt hat es sportlich genommen, sie hat

sich abgehärtet, sie ist dagegen angelaufen, nur Nebel,

nur Bewölkung, das vierzehn Tage in Folge, und als die Sonne

mal wieder für eine halbe Stunde hervorschaut, es ist mittags

halb eins, sie läuft gerade auf der Putlitzbrücke, wird ihr ganz anders. Sie hat im Ohr NPR, ein Bericht zu Toyota, und täglich

klemmt das Gaspedal, die Panne bei Toyota, Millionen Autos

zurückgerufen, Produktion gestoppt, GM im Aufwind,

und Ray LaHood, der amerikanische Verkehrsminister, im Unterausschuss des Parlaments gefragt, was er

Toyotabesitzern rate, die von Rückrufen betroffen seien,

My advice is if anybody owns one of these vehicels, stop driving it,

and take it to a Toyota dealer, davon bleibt in den Medien ein

Satz, Stop driving it, aber der Satz klemmt wie das Gaspedal von Toyota, ist die Regierung jetzt nicht GM-Hauptanteilseigner?

Berliner Tage, die folgen, bringen anhaltende Kälte, minus zehn,

nachts minus sechzehn Grad, Strassen, Gehwege,

Pärke, Flüsse, Landepisten unwirklich, gefroren, unwegsam, vereist, Rike braucht die Laufschuhe nicht mehr sofort auszuziehen,

wenn sie die Wohnung betritt, weil der Parkettboden immer gleich schmutzig nass wird. Die Berliner lieben Schnee, der Hauswart

fürchtet ihn, Nachschub an Splitt trägt er auf der Schulter in den Keller, Sack für Sack, als sei’s der Baustoff für die Zukunft.

Der Hauswart, Hans Buhlicke, ist alarmiert, er kapituliert nicht,

die Stadtreinigung kapituliert, die Berliner stolpern durch

Furchen im Eis. Auf der Strasse reden sie übers Wetter und

ziehen Kleider und Schuhe über, die sie in der

Rumpelkammer ausgegraben haben. Egal. Ende Januar taut

Warmluft Schnee und Eis auf, es tropft vom Hausdach, der Gully ist zugefroren, der Bürgersteig eine Pfütze, der Laufschuh nass,

dann, Anfang Februar, holt Kaltluft den Winter zurück, die Flüssigkeit gefriert, die Pfütze vereist, der Bürgersteig rutscht, Rike hat Mütze, Shirt, Jacke, Handschuhe, lange Hose angezogen, sie hat really red aufgetragen, den helleren Lippenstift von Cover Girl, der zu

Schnee und Eis passt, wie sie findet, sie ist um den Westhafen gelaufen, gerannt, gestrauchelt, geschlittert, gerutscht,

die auf Sand und Wasser gebaute Stadt vereist, Never go on

frozen waters, wie’s in den Winter Health & Safety Tips

heisst, sie lacht, sie denkt, sie übt, sie denkt, sie übt für den

Ernstfall, sie denkt, es gibt einen Fight, sie weiss,

der Fight kommt, aber sie weiss nicht wann, sie denkt, sie trainiert,

sie denkt, sie trainiert Kraft, sie trainiert Wendigkeit,

sie denkt, sie trainiert das Überleben, der Spazierweg eine Eisbahn,

Warntafel am Eingang, Betreten bei Schnee und Glätte

auf eigene Gefahr! es folgt ein Schild der Wasser-

und Schifffahrtsverwaltung, Benutzen und Betreten verboten,

aber es gibt Spuren, sie ist nicht die einzige, die

zuwiderhandelt und unten auf dem Pfad läuft, dem zugefrorenen

Kanal entlang, eine Schicht Neuschnee, sperrige Klumpen

und Schollen auf dem Eis, es gibt Spuren im Neuschnee, es gibt

dunkle, geschnittene, knorrige Äste und Stämme der

Uferbäume, es gibt Farben, die das Weiss in Weiss zu Leuchtfarben

macht, blaugrün der Kran, die Hebebühne am Ufer

gegenüber, rot die Karosserie, die auf den Recyclingschrott

getürmt ist, weiss der Betonmischer, die Banderole rot,

der Fahrer ist ausgestiegen, die Jacke orange, die Hose rot,

und es gibt, was zuletzt kommt und, wie es sein muss,

das Beste ist, schwarzweiss Andromeda, den Lastkahn, im Eis

festgekrallt, das Rettungsboot bedeckt mit blauer Plane,

schneebedeckt. Es ist Donnerstag, 11. Februar 2010, Rike hat

eiskalte Hände, klamme Finger, kalte Füsse, ein gefrorenes

Gesicht, sie ist gerade erst vom Laufen am Westhafen zurück, als

Ireen Mohaupt anruft, Rike steht in der Wohnzimmertür,

sie spürt das Herz schlagen. Sie redet, denkt Rike, und redet und

redet und redet, ihre Mom in Brooklyn, die verlassene Mom,

ihre Mom redet wie eine, die lange allein gewesen ist, sie ist nicht

zu stoppen, sie überquillt im Redeschwall, sie lacht,

Rike denkt, sie hört das kurze, schrille Mohaupt-Lachen, es ist

neun Uhr morgens in Brooklyn, es ist drei Uhr nachmittags

in Moabit, es sind die sechs Stunden, die yellow cabs

und Stehimbisse trennen, Ireen sagt: „Ich hab geräumt. Ich hab

das Zimmer geräumt. Und das Beste ist, weisst du, was

ich dabei gefunden hab?” Rike denkt, wie soll sie das wissen?

Ireen sagt: „Den Go bag, den ich 911 zurecht gemacht

hab, für alle Fälle, für den Ernstfall, für den Notfall. Erinnerst

du dich an den Go bag?” Und, ohne eine Antwort

abzuwarten: „Und das Beste ist, weisst du, was darin zum

Vorschein gekommen ist?” Rike denkt, wie soll sie

das wissen? Jahre ist das her, 911, acht Jahre, Ireen lacht erneut

das kurze, schrille Mohaupt-Lachen, sie sagt: „Ein Paar

blaue Halbschuhe, die du getragen hast mit zwanzig. Und Granola Riegel von 2001. Und eine 0,5-Liter-Flasche Mineralwasser

von 2001. Und die Autoschlüssel für ein Auto, das ich nicht mehr

hab. Und Packungen von Motrin und Tylenol, die seit

fünf Jahren abgelaufen sind.” Rike denkt, Tylenol Extra Strength,

Motrin IB, Bonus! 25% more! Rike denkt, 25% von was?

vom Schmerz, der unterdrückt? vom Fieber, das gesenkt wird?

wohl eher vom Packungsinhalt, Rike denkt, hat es nicht

gerade einen Rückruf von Johnson & Johnson gegeben, weil

Tabletten mit einem modrigen Geruch auf den Markt

gekommen sind, a moldy smell that has made people sick, und

einige Verbraucher Schwindel, Bauchweh, Erbrechen

und Durchfall bekommen haben? Ireen sagt: „Und das Beste ist,

weisst du, was das Beste ist?” Ihre Mom, denkt Rike,

sie steht in der Wohnzimmertür, im Joggingdress, ungeduscht,

das weisse Vattenfall-Frotteehandtuch um den Hals,

die Schultern gezuckt, Ireen sagt: „Eine Hundert-Dollar-Note.”

Ihre Mom redet, denkt Rike, ihre Mom redet von

Sicherheit, ihre Mom redet vom Verfallsdatum von Sicherheit,

vom Verfallsdatum menschlicher Vorsorge, sie hat

geräumt, Ireen Mohaupt, geschieden, in Brooklyn lebende

Photographin, alleinstehend, eine Tochter, abwesend,

hat das Zimmer geräumt, denkt Rike, die Zeit bleibt nicht stehen,

auch in der Krise nicht, sie hat das Zimmer der nach

Berlin desertierten Tochter geräumt oder was davon geblieben

ist, das Mädchenzimmer, das Schulmädchenzimmer,

das verwaiste, Ireen sagt: „Und das Beste ist, weisst du, was

das Beste ist?” Rike denkt, wie soll sie das wissen?

Ireen sagt: „Gestern, als ich am Mittag ins Auto steige und

wegfahren will, wen sehe ich da auf der Hooper Street?

Annie Wanamaker.” Darauf ist Rike nicht gefasst, sie ist gerührt,

sie ist getroffen, Annie Wanamaker, das Nachbarmädchen,

das Mädchen aus dem Haus schräg gegenüber, die rothaarige

Schulfreundin, sie hat mit Annie Wanamaker die High

School gemacht, Ireen sagt: „Ich will gerade die Wagentür

zuwerfen, da kommt Annie Wanamaker aus dem Haus.

Sie hat die Mutter besucht.” Rike denkt, im Unterschied zu ihr

selbst, nein, das hat sie nicht überhört, Ireen sagt:

„Stell dir vor, Annie Wanamaker! Sie will im Mai heiraten,

hat sie gesagt, das zweite Mal heiraten. Es ist nicht

so aufregend, hat sie gesagt, nicht so aufregend wie das erste

Mal. Ihr Verlobter ist Arzt, er arbeitet im Beth Israel

Medical Center, sie auch, in der Verwaltung, seit vier Monaten,

sie hat gesagt, Stephen ist bei ihnen eingeliefert

worden, Stephen Wagoner, nach einem Selbstmordversuch.”


Rike Mohaupt   weiter   zurück