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HITCHCOCK IM BAUR AU LAC
Ich träume keine Angstträume. Fritz Hirzel sprach mit
Alfred Hitchcock. TagesAnzeiger, Zürich, 3. Oktober 1972
(zeitgleich auch Der Falsche hinter Gittern. Magazin,
TagesAnzeiger, Zürich, 30. September 1972)
Zürich, Hotel Baur au Lac. Ein Nachmittag im Herbst 1972.
Alfred Hitchcock empfängt uns in seiner Suite zum Interview –
allein, ohne Aufheben. Ich bin mit Frl. Moser, der TagesAnzeiger-Übersetzerin, gekommen. Das Tonband läuft.
„Mr. Hitchcock, Ihr neuer Film, Frenzy, spielt in London, im
Covent Garden Market. Sie sagten einmal, dass Sie stets
ein Londoner geblieben seien. Sie wurden in London geboren.
Ihr Vater war Früchteimporteur, stimmt das?“
„Früchtegrossist war er...“
„Was ist Ihre erste Kindheitserinnerung, was ist ihr erster
Eindruck vom Covent Garden Market?“
„Früchte und Gemüse überall. Ich erinnere mich, wie ich mit
meinem Vater aufs Land gefahren bin und er zum Bauern
sagte: das Feld Kohl kaufe ich und dieses Feld Bohnen. Er kaufte
feldweise. Daran erinnere ich mich sehr gut, und da war
ich noch sehr klein.“
„In Frenzy gibt es allerhand ironische Fussboten über das
Essen und über die englische und französische Küche.
Der Mörder isst, wenn er ein Verbrechen begangen hat. Sie
sagten einmal, dass Sie einen Film machen wollten
über die Nahrung und über das Essen und über das ganze
Verteilersystem. Was ist aus dem Projekt geworden?“
„Ich wollte einen Film über ein grosses Hotel machen und
über die Küche in diesem Hotel, aber dann wurde in Hollywood
ein Film mit dem Titel Hotel gedreht, und so musste ich
meine Idee aufgeben. Meine Idee war: Der Geschäftsführer ist
Italiener. Im Laufe der Jahre hat er seine Familie
herübergeholt, auch seine Brüder und seine Mutter, und sie
ist im Hotel beschäftigt, aber es sind alles Diebe und
Gauner. Er aber, in seiner Position als Geschäftsführer, verhält
verhält sich loyal – er ist kein Gauner mehr. Und er hat
alle Mühe, seine Familie im Zaum zu halten. ich hatte zwei
italienische Drehbuchautoren aus Rom, aber wir hatten
Sprachschwierigkeiten – ich spreche kein Italienisch, und es kam
nicht zustande. Trotzdem, es wäre sicher eine amüsante
Idee gewesen, ein grosses Hotel hinter den Kulissen zu zeigen
– nicht den Speisesaal, sondern die Küche, den Weinkeller,
die Tiefkühlanlage. Wissen Sie, ich wollte, dass sie jemanden
umbringen, indem sie ihn in die Tiefkühlkammer sperren.
Dann sollte da eine Frau sein, Sophia Loren oder so, die ins
Hotel kommt – mit einer grossen Sammlung römischer
Münzen, die sie verkaufen will. „Um Gottes willen!“ sagt der
Geschäftsführer. „Bringen Sie die nicht hierher!“
Er weiss, dass seine Familie hinter den Münzen her sein wird.
Dann, als sie die Münzen in ihrem Zimmer ausstellt,
kommt einer der Brüder – er kommt dem Rest der Familie zuvor,
stiehlt die Münzen und versteckt sie in einer riesigen Torte,
die für ein Bankett bestimmt ist. Endlich finden sie heraus, wo die
Münzen sind. Sie wollen die Torte holen, da ist sie
verschwunden. Sie ist bereits am Bankett. Alle essen Torte.
Da rennen sie alle herum und schlagen die Leute auf
den Rücken, und die Münzen fallen ihnen aus den Mäulern
heraus auf die Teller.“
„In Frenzy ist es wieder der falsche Mann, der falsche
Verdacht, um den es geht. Was mich erstaunt hat, ist
die Klarheit, mit der Sie die anderen Elemente zeigen – zum
Beispiel die Wechselwirkungen von Lust, Sex, Angst
und Hunger. Es hat die Klarheit eines Traumes, wie Sie das
zeigen. Träumen Sie selber oft?“
„Ja, ich träume, aber – keine Angstträume. Nicht, dass ich
in der französischen Revolution lebe, auf dem Weg zur
Guillotine... Sie kennen doch die Geschichte von dem Mann und
der Frau an einem heissen Tag in der Kirche. Der Pfarrer
predigt. Die Frau fächert sich kühle Luft zu. Es ist sehr heiss. Und
der Mann schläft ein und träumt, dass er zur Guillotine
gefahren wird. Als er dort ankommt und niederkniet und das
Messer heruntersaust, ertappt ihn die Frau, nimmt den
Fächer und schlägt ihm auf den Nacken, um ihn zu wecken. Er
aber fällt tot zu Boden. Merken Sie, dass die Geschichte
einen Fehler hat?“ fragt Hitchcock.
„Sie hat ihn –“ Es ist Frl. Moser, die das sagt. Sie ist
Hobby-Astrologin und hat sich vorgenommen herauszubekommen,
zu welcher Stunde Hitchcock geboren wurde. „– sie hat ihn
zu spät geweckt, nicht wahr?“
„Nein“, ruft Hitchcock. „Er fällt tot zu Boden, als ihn der
Fächer im Nacken trifft. It‘s a wrong story. Wissen Sie warum?
Wer weiss denn, was er geträumt hat?“
„Oh“, sagt Frl. Moser leise, sich fast entschuldigend.
„It‘s cruel.“
Er steigert sich. „Die grässlichste Geschichte aber, die ich je
gehört habe, handelt von einer chinesischen Hinrichtung.
Der Henker köpft mit dem Schwert den aufrecht stehenden
Verurteilten. Das war etwa im sechzehnten Jahrhundert,
vielleicht auch später. Einmal geht ein Todeskandidat die Stufen
hinauf. Der Henker tritt zurück, macht ein, zwei Schritte
vorwärts und bleibt stehen. ‚Henker, lass mich doch nicht stehen
in meiner Todesangst‘, sagt der arme Mann, das Opfer.
Und der Henker sagt: ‚Du brauchst nur mit dem Kopf zu nicken.‘
Verstehen Sie? Es ging so rasch, dass der Mann es gar
nicht gemerkt hat. Der Henker sagt nur: ‚Nick mit dem Kopf.‘
Und der Kopf fällt herunter.“
Ich grinse. Frl. Moser unterdrückt ein kurzes Lachen.
„Horrible“, sagt sie.
Er sitzt im Polstersessel. Er nickt befriedigt. „Horrible Story“,
sagt er, im Tonfall zelebrierend.
Was fällt ihm zur Schweiz ein? Ist die Schweiz für ihn ein
Thema? „Zwei oder drei ihrer Filme, The Man Who Knew
Too Much und The Secret Agent, spielten in der Schweiz, die
Sie als ein Land beschrieben, in dem es Berge, Seen,
Schokolade und natürlich Agenten gibt. Glauben Sie, dass Sie
heute noch eine Agentengeschichte in der Schweiz
spielen lassen könnten? Oder, wenn nicht, welche Geschichte
würden Sie heute in der Schweiz drehen?“ frage ich.
„Ja, sehen Sie, der ursprüngliche Stoff, den ich verfilmt
habe, hiess The Secret Agent und war eine Geschichte
aus dem Ersten Weltkrieg, als ein englischer Schriftsteller
namens Somerset Maugham in Genf für die Engländer
als Spion tätig war. Nach dem Ersten Weltkrieg schrieb er eine
Reihe von Geschichten, deren Held ein Mann namens
Ashenden war, aber eigentlich waren das autobiographische
Geschichten. Und daraus habe ich einen Film gemacht.
Sehen Sie, die Schweiz war zu jener Zeit voller Deutscher und
Engländer – wie Lissabon im letzten Krieg von Spionen
wimmelte, von Deutschen, Engländern, Amerikanern. Ich weiss
natürlich nicht, wie es in der Schweiz im letzten Weltkrieg
war, ob es da viele Spione gab. Das einzige, was wir im Ausland
von der Schweiz kennen, sind die geheimen Bankkonten.
Ich würde ganz gern eins eröffnen... – mit einem Dollar, um dann
in Amerika sagen zu können: Ich habe ein Geheimkonto
in der Schweiz.“
„Nicht mit einem Dollar“, sagt Frl. Moser. „Ich bin nicht ganz
sicher – ich glaube, es sind 50 Franken, die Sie anlegen
müssen, aber vielleicht machen sie bei ihnen eine Ausnahme.“
Ein Nummernkonto – das ist es also, was ihm heute zur
Schweiz einfällt. „Zürich, sagen Sie, ist für Sie die Stadt, in der
Sie den Zug wechseln“, sage ich.
„Naja, wir haben es uns zur Gewohnheit gemacht, jedes
zweite Jahr zu Weihnachten nach St. Moritz ins Palace
Hotel zu kommen. Während des Zweiten Weltkriegs gabs einen
Unterbruch, nach Kriegsende haben wir damit wieder
angefangen. Jetzt sind wir zwei Jahre nicht mehr dort gewesen,
vielleicht dass wir nächstes Jahr hinfahren. Wir kommen
immer vom Flughafen, müssen den Zug nach Chur nehmen und
von dort die Rhätische Bahn.“
„Mögen Sie Charles Dickens?“ Die Frage ist mir einfach
so heraiusgerutscht.
„Oh doch“, sagt Hitchcock. „In Great Expectations gibts
ein paar Charaktere, die ich sehr gut finde – sehr farbig
gezeichnete Charaktere, ich denke vor allem an die Frau, die
immer das Hochzeitskleid trägt.“
„Mir scheint, es gibt in Great Expectations eine Mischung
von Humor und Suspense, wie Sie sie in Ihren Filmen verwenden.“
„I suppose there is... Es gibt eine Menge Humor bei
Dickens und auch eine Menge Dramatik, vor allem in Great Expectations und A Tale of Two Cities.“
„Übrigens, haben Sie –“ Ein Einfall, nichts von Bedeutung,
nein. „– haben Sie Raymond Hitchcock einmal getroffen?“
„Nein. Er ist ein amerikanischer Musical Comedy Star
gewesen. Sein berühmtester Song war All dressed up and –“
Hier beginnt Hitchcock zu singen. „– nowhere to go.
Ich glaube, er starb, bevor ich nach Amerika gekommen bin.“
„Die ursprüngliche Idee zu Frenzy – haben Sie die
selbst gehabt? Wann war das?“
„Ich dachte schon früher einmal an eine
Frauenmördergeschichte, aber da wurde nichts draus. Dann
las ich dieses Buch, das mir vom Verleger zugeschickt
wurde. Es basierte beinahe auf derselben Idee, und so nahm
ich das Buch, ohne mich genau daran zu halten. Klar,
ein Buch ist eine Sache, ein Film etwas total anderes. Und
natürlich, die wichtigste Sache im Kriminalfilm ist für
mich die Klischées zu vermeiden, weil diese Geschichten soviele
Klischées haben. Nun, dass man den Falschen verurteilt,
das ist in England in den letzten Jahren zweimal vorgekommen.
Ein Mann namens Evans wurde gehängt, und dann merkten
sie, dass sie den Falschen gehängt hatten. Und dann wurde der
sogenannte A-6-Mörder... – der wurde auch gehängt, und
hinterher meldete sich ein anderer als Täter. Aber schon Evans
sagte immer wieder, bevor er erhängt wurde: ‚Christie
hat‘s getan, Christie hat‘s getan.‘ Darum liess ich den Mann im
Film sagen: ‚Rusk hat‘s getan.‘ Aber niemand glaubte ihm.
Sie haben vom Fall Christie gehört? Das Aussergewöhnliche
daran war, dass die Polizei, sogar Scotland Yard, auch
die Frauen den Zufall nicht akzeptieren wollten, dass zwei Mörder
im selben Haus wohnen könnten – beide Frauenmörder.
Es war verrückt.“
„Ich glaube, das ist in Ihren Filmen sehr wichtig – dieses
Studium des Vorurteils. Was ist das für ein Typ Mann,
der so etwas tut? Oder in Frenzy die Leute, die einen bestimmten
Typ suchen, der ihrem Bild vom Mörder entspricht.“
„Well. Sehen Sie, in Frenzy versuchen wir ja gerade zu
zeigen, dass dies kein Sexualpsychopath ist. That is a mistake.
Er ist ein Mann, der impotent ist, verstehen Sie? Er
verschafft sich nur Befriedigung – sexuelle Befriedigung, wenn
er eine Frau umbringt.“
„Sind Sie da sicher?“ Ich frage mit einem leisen Zweifel.
„Sicher. da bin ich ganz sicher. das ist der springende Punkt.“
Mit Nachdruck sagt Hitchcock das. „Und viele Leute
verwirrt das. ‚Ah, das ist ein Sexualpsychopath‘, sagen sie. Das
ist nicht wahr.“
„Aber –“, fällt Frl. Moser ein. „Das ist doch auch eine Art
Sexualpsychopath.“
„Nicht wirklich, nicht wirklich, sehen Sie. Der Sexualpsychopath
ist ein Mann, der eine Frau sieht – er attackiert sie,
vergewaltigt sie... Es entgleitet ihm aus der Hand, das ist eine
völlig andere Sache...“
Frl. Moser errötet. „M-mh.“
„– es entgleitet ihm aus der Hand und er verliert... – verliert
seinen Kopf. Aber dieser Mann, sehen Sie... Nehmen Sie
zum Beispiel Christie, den Massenmörder. Als er vor Gericht
stand, im Kreuzverhör zum Mord an einer bestimmten
Frau befragt wurde, sagte der Ankläger: ‚Da waren also drei
Stufen von der Küche zum Korridor.‘ – ‚Ja.‘ – ‚Dann
sagen Sie, ist sie gefallen?‘ – ‚Ja, ich denke ja.‘ – ‚Dann stellten
Sie fest, dass sie tot ist?‘ – ‚Ja.‘ – ‚Hat Geschlechtsverkehr
stattgefunden?‘ – ‚Ich denke schon.‘ – ‚Hat er vor, während oder
nach ihrem Tod stattgefunden?‘ Und die Antwort war:
‚Während, denke ich.‘ Also ist er kein Nekrophiler gewesen
– wie der Mann, der‘s nach dem Tod macht. Das ist
ein Nekrophiler.“
„Yes.“ Frl. Moser tönt, als hätte er sie hypnotisiert. Und er
– wie ein perverser alter Mann, der‘s darauf abgesehen
hat, sie einzuschüchtern – er redet auf sie ein, obszön, die
Stimme eindringlich, geniesserisch, ein Erzähler,
der die Situation auskostet, ein Lüstling, ein Frauenfeind.
„Nein“, sagt er. „Es kommt ihm nur, wenn er die
Frau erwürgt. das ist das Ding, das es ihm bringt. And you
know, uh – not for the record...“ Er verschlingt sie
geradezu mit seinen Blicken. „...und wissen Sie, wie der arme
Kerl es macht, wenn er nicht mit einer Frau kann?
Er nimmt eine Henne –“ Er zeigt, wie‘s der Hühnerficker macht
– beide Hände zwischen seinen Stumpenbeinchen,
als umkrallten sie das penetrierte Federvieh. „– und bricht ihr
den Nacken, sodass sie zuckt und flattert.“
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