Komplize Leserbrief Roman lesen weiter zurück
KAPITEL XVI
Fritz Hirzel, Komplize, Roman. Bei Limmat erschienen
unter dem Titel Schindellegi, Paperback, 308 Seiten,
Zürich 1988.
Es roch nach Schweiss und Griesgrämigkeit und abgestandener
Büroluft. Durch die Fensterlamellen drang die Abendsonne,
blutrot, schräge Schattenstreifen werfend. Let not the sun go down –
Immer wieder gingen Bob die Worte im Kopf herum,
während er auf seinem Stuhl hockte und wartete. Let not the
sun go down upon your wrath. Die Augen fielen Bob zu.
Upon your wrath. Das hiess – nein, er konnte es nicht übersetzen.
Let not the sun go down. Er hielt die Augen geschlossen.
Er sah Licht im Dunkel. Upon your – wrath. Das hiess Bitterkeit,
hiess Rache, Wut, hiess Ärger, Zorn. Das hiess Kaltenbach
und Zimmerli und Palmieri und Flühmann, hiess Zimmerli und noch
einmal Zimmerli, hiess Fränzi, dachte Bob und lachte
stumm, voller Selbstmitleid. Er blinzelte. Lasst nicht die Sonne
untergehen - über den Gefühlen eurer Wut? Nein, das
hatte keinen Klang. Bob rutschte auf dem Stuhl. Er hielt den Blick
gesenkt. Er musterte die Fingernägel, die aufgerissen
waren, an den Rändern schwarz. Let not the sun go down
upon your wrath. Bob hob den Kopf. Er blickte sich
um. Unauffällig, verstohlen. Zwei sperrige, sauber aufgeräumte
Pulte standen aneinandergerückt in der Mitte des Büros.
Hinter der Türe zum Korridor war ein Stadtplan aufgemacht.
Daneben ein Kalenderblatt, eine Foto - Bergwelt, ewiger
Schnee. Auf der andern Seite, halbvergilbt, ein Plakat – die Polizei,
„dein Freund und Helfer”. Lasst nicht die Sonne untergehen
über eurer Bitterkeit?
„Gestern sagten Sie –” Polizei-Detektiv Schubiger sah Bob
ratlos an. „– Sie glaubten, Zimmerli sei ihr Vater.”
„Er ist nicht mein Vater! Wenn er mein Vater gewesen
wäre, warum sollte ich gegen ihn –” Schubigers Gesicht, durch
Schatten schraffiert, im Licht der Sonne rot – wie gegrillt,
dachte Bob.
„Warum sollten Sie was?”
„Ich kenne ihn überhaupt nicht.”
„Warum bestreiten Sie jetzt alles? Gestern sagten Sie,
Sie hätten Zimmerli –”
„– weil’s nicht stimmt.”
„Ach ja?” Schubiger war aufgestanden. „Gut, Herr Franey.
Wie Sie wollen. Also das Ganze noch einmal.”
„Sie glauben mir nicht?”
„Sie haben Zimmerli im Grütli kennengelernt. Das haben
Sie gestern hier gesagt. Und vor zwei Tagen.”
Bob gähnte. „Und?”
„Sie haben ihn also doch gekannt.”
Ein Presslufthammer, unten im Strassenverkehr, wütete
herauf. Bob hielt die Hand vor den Mund. Er spürte die Wut, die
Unduldsamkeit. Die Hand sackte auf das Knie herab.
„Gekannt?” Bob zuckte die Schultern. Verschwitzt,
aggressiv und zerschlagen, wie er sich fühlte. „Sie meinen, ohne
es zu wissen?”
„Und was ist mit dem Haus, in dem wir Zimmerlis Leiche
gefunden haben? Sind Sie dort gewesen oder nicht?”
„Nein.”
„Sie sind nicht in dem Haus gewesen?”
„Ich kenne das Haus nicht.”
„Ich habe Ihnen gesagt, Zimmerli ist umgebracht worden.
Es müssen also Leute dort gewesen sein, Herr Franey.”
„Das haben Sie mir gesagt. Mindestens dreimal.”
„Ist es nicht möglich, dass Sie trotzdem in dem Haus
gewesen sind? Sonntagnacht, meine ich.”
„Erwarten Sie darauf eine Antwort?”
„Zuerst sagten Sie, Sie sind zu Hause gewesen zur
fraglichen Zeit. Sie haben geschrieben, sagten Sie. Das Dumme
ist bloss, dass Sie dafür nicht einen einzigen Zeugen haben.”
„Doch.”
„Sie meinen ihre Freundin, ich weiss.”
„Na und?” Bob spürte die aufgestaute Wut. „Ist sie niemand?”
„Fräulein Signer hat gesagt, es war zehn nach zwölf,
als sie nach Hause gekommen ist. Jemand hat Zimmerli zwischen
elf Uhr nachts und drei Uhr früh umgebracht, Herr Franey.”
„Und?”
„Er hat mit einem stumpfen Gegenstand auf seinen
Schädel eingeschlagen. Sie hatten eine Stunde und zehn Minuten
Zeit gehabt dafür, wenn Fräulein Signer die Wahrheit sagt.”
„Wie meinen Sie das?”
„Fräulein Signer hat versucht, Sie zu decken”, sagte
Schubiger. Er liess die Hand aufs Pult klatschen. „So würde ich
das nennen.”
„Sie? Sie unfähige lächerliche Figur!”
Schubiger hielt die Stirn gerunzelt. „Herr Franey, Sie wohnen
nicht mehr bei Fräulein Signer. Warum eigentlich?”
Bob schwieg.
„Warum sind Sie bei ihr ausgezogen?”
„Das geht Sie – einen Dreck geht Sie das an.” Bob starrte
in die Ecke, er schwieg.
„Hat Fräulein Signer Sie vor die Tür gesetzt?”
Bob holte Luft.
„Schläft sie nicht mehr mit Ihnen?”
Der Rücken schmerzte Bob. Mühsam, die Beine
übergeschlagen, suchte er sich aufzurichten.
„Ich habe heute mit Fräulein Signer gesprochen.”
„Sie Scheisskerl!”
„Passen Sie auf, was Sie sagen.” Schubiger war aufgesprungen.
Er lächelte ein süffisantes Lächeln. „Etwas, mein Lieber –”
Er packte Bob am Hemdkragen.
„Lassen Sie mich los.”
„– etwas weisst du noch nicht.”
„Loslassen!”
Schubiger ging in die Knie. Er wippte. „Du blasierter,
nichtsnutziger Wixer, du!“ Er schlug Bob hart ins Gesicht.
„Schwein.” Bob duckte sich.
„Sie hat ihre Aussage widerrufen.”
„Das ist nicht wahr.” Bob schluckte. Sein Mund war ganz
trocken. „Ich glaube kein Wort.”
„Sie hat mir gesagt, sie ist nicht mehr sicher.”
„Bullensau.”
„Sie kann’s nicht mehr sagen.” Schubigers Stimme hatte
einen gereizten lustvollen Unterton.
„Schnüffler!”, rief Bob. Das Kinn tat ihm weh.
„Sie will nicht mehr sagen, dass du zu Hause warst,
mein Lieber.” Schubiger holte mit der Hand aus.
„Das ist nicht wahr.” Bob wich zurück.
Schubiger packte ihn am Hinterkopf. „Sie kann’s nicht
mehr sagen.”
„Ich glaube Ihnen nicht.” Er lügt, dachte Bob. Er soll Fränzi
in Ruhe lassen. „Kein Wort davon ist wahr”, sagte Bob.
Nichts wird er von Fränzi erfahren, gar nichts! Das Hemd klebte
Bob am Rücken. „Sie lügen!”
„Und sonst hast du nichts zu sagen?”
„Ich wüsste nicht was.”
„Du hast Zimmerli im Grütli gesehen“, sagte Schubiger. Er
hatte sich vor Bob aufgebaut. „Ist das zwei Wochen her? Oder drei?”
Bob starrte zu Boden.
„Du weisst es genau, hergelaufener Bastard, du!”
Bob streckte die Beine von sich. „Lassen Sie mich in Ruhe, Sie –”
„Wann ist es gewesen?”, fragte Schubiger, die Stimme
aufgedreht, erregt, unverhohlen drohend. Er hatte erneut die
Hand erhoben. „Hm?”
„Scheisskerl!”
„Wann?”, beharrte Schubiger.
Bob bückte sich. Er lachte vor Angst.
„Du Bastard!”
Schützend hielt Bob den Arm hoch. Ein Schuhabsatz traf
ihn am Schienbein. Bob jaulte auf. Schubigers Schlag mit der Hand
kam hart, rasch und gezielt. Bullensau, dachte Bob. Er war
voller Blut. Das Kinn, die Nase, das Hemd. Er kippte vornüber.
Und wieder schlug Schubiger zu. Bob wurde schwarz vor
den Augen. Er krümmte sich vor Schmerz.
„So eine Sauerei!”, rief Schubiger. Er liess von Bob ab.
Bob blickte auf.
„Da siehst du, wie du aussiehst.”
Das Blut, dachte Bob. Er wimmerte.
„Wann?”, fragte Schubiger wieder. „Wann ist es gewesen?”
Bob hustete.
„Wann?”
„Drei Wochen. Drei Wochen ist es her”, sagte Bob lispelnd.
Er hielt sich knapp aufrecht, die Hand am Stuhlbein. Blut tropfte aus
seinem Mund. „Ist das – wichtig?”
„Hier stelle ich die Fragen.”
Bob legte den Kopf zurück. Die Decke verschwamm. Es
hämmerte in seinem Schädel. „Ich scheisse auf Sie!”
„Du hast Zimmerli im Grütli gesehen. Er ist zu euch
hingetreten, zu euch an den Tisch. Fräulein Signer war bei dir.
Was hat Zimmerli gesagt?”
„Nichts.”
„Er muss etwas gesagt haben.”
„Er war betrunken. Er hat –”
„Noch war Zimmerli am Leben.”
„Leben?”
„Was hat er gesagt?”
„Unsinn.”
„Was für Unsinn?”
„Er war tot. Seit langem war Zimmerli tot.”
„Nicht im Grütli.”
„Doch.” Bob fing an, mit den Fingern das Gesicht abzutasten.
Das Kinn, den Mund, die Nase. Das Blut schien zu gerinnen.
„Er war tot. Schon zu Lebzeiten war Zimmerli tot.”
Schubiger schaute verständnislos. Er machte die Türe auf,
die zum Korridor ging. Er trat hinaus.
Bob sank in sich zusammen. Seine Hand zitterte.
„Willst du ein Glas Wasser?” Schubiger war zurückgekommen.
Er hielt Bob ein Glas hin.
Bob fasste mit beiden Handen das Glas, führte es an
die Lippen und nahm einen unsicheren kleinen Schluck. Schubiger
hat dich geschlagen, dachte Bob. Hat er das auch bei
Zimmerli getan?
Schubiger hielt ein Papier hoch.
„Und was ist damit?” Er hatte es vom Pult genommen.
Bob verschüttete Wasser.
Schubiger las vor. „Ich habe mich in besagtem Haus
aufgehalten. Ausser mir befand sich dort Zimmerli Hermann,
Jahrgang 1921, den ich vor zwei Wochen im Restaurant
Grütli, Zürich 4, kennengelernt hatte, wo meine Tante wirtet. Mir
war ausserdem bekannt, dass Zimmerli zehn Tage darauf
als Flagellant im Industriequartier angehalten worden war und
anlässlich der polizeilichen Überprüfung Anspruch auf
Vaterschaft in bezug auf meine Person erhoben hatte, wobei
er den Beweis schuldig geblieben war. Ich wollte ihn
deswegen in besagter Nacht zur Rede stellen, aber Zimmerli
war nicht ansprechbar, weil er getrunken hatte. In der
Folge kam es zwischen uns zu einem heftigen Streit. Zimmerli
beleidigte mich, mehr noch meine Mutter mit wüsten
Injurien, so dass ich ihn in der Wut auf den Kopf gehauen
habe. Ich benutzte dazu einen stumpfen, im Hause
herumliegenden, mir nicht erinnerlichen Gegenstand, über
dessen Verbleib ich keine Angaben machen kann.”
„Was ist das?”, fragte Bob.
„Das Geständnis. Hier! Sie haben unterschrieben.”
„Ich? Das soll ich unterschrieben haben?” Bob beugte
sich vor, als wollte er nicht glauben. Mit einem Mal schien alles
unsicher zu werden. „Und wann das?”
„Gestern.”
„Ich? Gestern Nacht?” Bob stellte das Glas ab –hilflos, vor
Entsetzen zitternd, aber ohne zu verschütten.
„Nichts habe ich unterschrieben. Nichts.”
„Hier!” Schubiger hielt die Stirn gerunzelt. „Was wollen Sie?”
Er sah Bob an. Er reichte ihm das Blatt. „Das ist ihre Unterschrift.”
Unglaublich, fand Bob. Es war seine Unterschrift, da
bestand kein Zweifel. Er merkte, wie Schubiger ihn musterte.
„Unglaublich”, sagte Bob.
„Na also.”
Bob schluckte leer. Er reichte das Blatt zurück, lachte
missmutig und streifte die Hand an der Hose ab.
„Das ist ihre Unterschrift”, bestätigte Schubiger.
„Ich habe nicht gewusst, was ich tue.”
„Und Sonntagnacht? Haben Sie Sonntagnacht gewusst,
was Sie tun?”
„Es ist alles –” Bob zögerte. „Es ist alles erfunden.
Es stimmt nicht. Ich wollte möglichst –” Bob verhaspelte sich,
halb lallend.
„Ja, was?”
Ist das nicht verrückt? überlegte Bob. Ich mache mir
nichts als Schwierigkeiten. Dabei war Bob so müde. „– ich wollte
mich in eine ausweglose Lage bringen. Das ist alles.”
„Ich weiss nicht, Herr Franey.” Schubiger schaute auf die
Armbanduhr. „Ich glaube, Herr Peter kommt nicht mehr.”
„Herr Peter?”
„Der Ladenbesitzer, der Sie Sonntagnacht gesehen
hat. Zumindest behauptet er es. Er sagte, er kann erst nach
Ladenschluss kommen.”
Der Mopedhändler, überlegte Bob, ohne zu wissen
warum. Der Mann hatte vor dem Ladenfenster gestanden, als
Flühmann Bob nachgelaufen war. Er hat uns beobachtet,
dachte Bob. Er sagte:
„Ich bin zu Hause gewesen. Mich hat niemand gesehen.”
Schubiger lachte. „Umso besser für Sie.”
„Ich verstehe das nicht”, sagte Bob kopfschüttelnd. Er
wollte nicht in die vergitterte Zelle zurück, in der er letzte Nacht
kaum ein Auge zugetan hatte, aber die Möglichkeit war nun
wohl vertan. „Ich weiss nicht, was ich getan habe”, sagte er. „Ich
muss den Verstand verloren haben, als ich das unterschrieb.”
Es klopfte. Die Tür ging einen Spalt breit auf, ein
Polizeibearnter war zu sehen. Er streckte sein neugieriges
Gesicht herein und sagte ein paar Worte zu Schubiger, die Bob
nicht verstand.
„Ich bin gleich soweit”, sagte Schubiger. Er lächelte. „Das
wäre dann alles, Herr Franey.”
Er lässt dich laufen, dachte Bob. Er war gerührt. Er fand
Schubiger in diesem Augenblick geradezu menschlich.
Gewiss, er konnte sehr unangenehm werden, aber verbissen –
nein, verbissen war er nicht. Menschlich? Er hat dich zusammengeschlagen, du spürst es überall – ein Eckzahn,
die Nase, das Kinn. Er hat dir die Fingerabdrücke
genommen, überlegte Bob. Und jetzt? Er interessiert sich für
Beweise, nicht für dein Geständnis.
„Sie sagen ihrer Tante, wo ich Sie finden kann.”
„I’m sorry”, sagte Bob.
Schubiger zuckte die Schultern. Wie ein Arzt, der den
nächsten Patienten ins Untersuchungszimmer bittet, sagte er:
„Engeler.”
Engeler hockte auf der Korridorbank – gekrümmt, mit
einem Verband, der über Stirn und Ohr gezogen war, grotesk im
Ausmass. Seine Augen flackerten vor Erregung.
„Ist Ihnen so nicht zu heiss bei dem Wetter?”, fragte Schubiger.
„Das ist er!”, schrie Engeler. Er zeigte mit dem Finger
auf Bob. „Er hat ihn umgebracht.”
Schubiger blickte Bob an.
„Hier! Die Hand!”, rief Engeler.
Der Kahlhäuptige, dachte Bob. Er blieb wie angewurzelt
stehen, die Wunde bedeckend. Er war patschnass.
„Mörder”, sagte Engeler. „Ich hab dich –”
Der Polizeibeamte grinste.
„– hier!” Triumphierend, voller Stolz, wie Engeler das
hinschleuderte. „Hier hab ich ihn erwischt!”
Der Polizeibeamte hatte sich niedergebeugt. Er
schloss die Handschellen auf. „Reden Sie keinen Unsinn,
Engeler. Kommen Sie.”
Engeler riss sich los. Er starrte Bob an.
„Das wirst du bereuen.” Engeler spuckte zu Boden.
„Du Prothese, jetzt reicht’s aber.” Der Polizeibeamte packte
Engeler, nahm seinen Arm und riss ihn auf den Rücken.
„Mit dir hab ich genug Ärger gehabt.”
Engeler schrie vor Schmerz und bäumte sich auf.
„Sie können gehen, Herr Franey”, sagte Schubiger.
Der Korridor dehnte sich, soviele Schritte Bob auch machte –
unsicher, als müsste Schubiger ihn nochmals zurückrufen.
Eine Türe fiel zu. Aus einem der unteren Stockwerke waren
lachende Stimmen zu hören.
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