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KAPITEL VI



               Fritz Hirzel, Komplize, Roman. Bei Limmat erschienen

               unter dem Titel Schindellegi, Paperback, 308 Seiten,

               Zürich 1988.


Welche Annehmlichkeit zu Hause zu sein, dachte Flühmann.

Er hing mehr an Haus und Garten, als er bereit war zuzugeben.

Sie waren wie ein Hafen, in den man heimkehrte. Nie

schätzte man sie sosehr wie nach Tagen der Abwesenheit.

Flühmann setzte sich auf das Sofa, das Vilma im

Frühjahr erst erstanden hatte, ein rechteckiges weisses

Sofa, das Le Corbusier entworfen hatte, verblüffend

einfach, verglichen mit dem Ungetüm von Liege, die ebenfalls

von Corbu stammte. Noch immer konnte man das Leder

riechen. Flühmann lehnte sich befriedigt zurück. Sie hatten eine

leichte Mahlzeit eingenommen. Herrlich saftiges mageres

Siedfleisch an Meerrettichsauce, zum Dessert Vanillecreme

mit frischen schwarzen Johannisbeeren.

      Durch das offene Terrassenfenster fiel die letzte wärmende

Sonne und erfüllte das Wohnzimmer mit Licht, als sei

nicht bereits Abend geworden. Abend? Es müsste längst Nacht

sein. Oder wieder Morgen? Flühmann hatte das Gefühl,

der Tag nehme kein Ende. Und morgen? Flühmann war sich

bewusst, dass Palmieri ein Ja erwartete. Und wenn es ein

Nein sein würde, was konnte Palmieri schon tun? Natürlich

könnte Flühmann versuchen, ihn mit einem plausiblen Grund hinzuhalten. Ob aber Palmieri darauf einging? Flühmann

wusste es nicht. Er fühlte sich müde. Es tat nach dem langen

Flug gut, hier einfach zu sitzen und die Abendstimmung

in sich aufzunehmen. Ein sommerlich satter Geruch drang aus

dem Garten herein, eigentümlich und verwirrend wie

das Gezwitscher in den Bäumen, das unablässige Gezirpe.

Vertraut, lebhaft.

      Vilma telefonierte im Vestibül. Sie traf mit Annie

die letzten Reiseabmachungen. Jetzt hörte Flühmann, wie Vilma

auflegte. Sekunden später trat sie ins Wohnzimmer.

      „Du kannst morgen ausschlafen“, sagte Vilma, indem

sie sich zu Flühmann setzte. „Kurt fährt uns zum Hauptbahnhof.

Bist du nicht froh, mein Lieber?“

      „Ach, ich hätte das gern für euch getan.“ Er drückte

ihr die Hand, als wollte er seine Worte bekräftigen. „Vilma,

du weisst, ich muss morgen sowieso zeitig auf.“

      „Nicht um sechs. Du bist so angespannt.“

      „Ich bin müde. Das ist alles.“

      Er fühlte sich nicht unbehaglich, im Gegenteil. Was er

empfand, war ein Gefühl der Vertrautheit – aus dem Tritt geworfen,

wie er war. War es die Nachbarschaft, die Umgebung,

deren vielfaltige Laute und Geräusche er kannte? Sie fügten

sich zu einem Fluss des Gewohnten, selbst mit zugefallenen

Augen. Kilchberg. Das Haus. Die Nachbarschaft. Das

Gepflegte. Das Kleinliche. Der Rasen, der nicht zu betreten war.

Geradezu widersinnig. Die Fremden, die Dazugehörigen.

Es gab in Kilchberg eine Grenze, die man nie aus dem Auge

verlor. Das hatte Flühmann anfangs am meisten verwundert.

Manchmal genügte schon das Geräusch eines fremden

Wagens, um wachsame Anwohner ans Fenster eilen zu lassen.

Hatte er über solche Dinge nicht gespottet? Seltsam.

Während des Essens hatte Flühmann sich ertappt, wie er selbst

hin und wieder aufhorchte. Ein paar Stimmen, die aus dem

Nachbargrundstück zu hören waren. Lächerlich. Es war nichts

Ungewöhnliches, wie Flühmann jedes Mal feststellte.

Kein Auto, das langsam hinter dem Haus vorbeifuhr und unten

an der Strasse anhielt. Von Palmieri keine Spur.

      „Willst du dich nicht hinlegen?“

      „Das Dumme ist –“ Er legte Vilma die Hand um die

Schulter. „Ich kann nicht schlafen. Findest du’s nicht schön, hier

noch zu sitzen. Einfach so?“

      „Doch“, sagte Vilma. „Nur tust du’s so selten.“

      „Ich weiss. Du hast recht.“

      Er umarmte Vilma, aber sie schmiegte sich nicht an ihn.

Ein schrecklicher Gedanke ging ihm durch den Kopf.

Er würde das hier verteidigen. La Gioconda. So hatte das Haus geheissen, als sie es gekauft hatten. La Gioconda. Er war

sich mit Vilma einig gewesen, dass sie dem Haus einen neuen

Namen geben wollten. Und nun war er doch geblieben,

für Vilma und ihn ein willkommener Anlass, sich vor Besuchern

über ihren Vorgänger, einen Staatsanwalt, zu mockieren.

La Gioconda. Immerhin hatte es einiges an Geduld und Energie erfordert, das Haus von allerhand Zierrat und Schnörkel

zu befreien und den Garten ein wenig verwildern zu lassen.

Am Schluss war der Name geblieben. La Gioconda.

      Vilma richtete sich auf, als sei ihr etwas eingefallen.

„Hast du nicht gesagt, du erwartest einen Anruf?“

      Flühmann nickte.

      „Ist das nicht Jeff, auf den du wartest?“

      „Doch.“

      Sie sassen eine Weile da und schwiegen.

      „Mir kommt’s eigenartig vor“, begann Vilma wieder, als

hätte sie an nichts anderes gedacht. „Jeff müsste doch längst

angerufen haben.“

      Mit einem schnellen Blick auf Vilma sagte Flühmann:

      „Wir haben keine feste Zeit abgemacht.“

      Das hatten sie allerdings, dachte Flühmann. Der Anruf

war überfällig.

      „Seltsam“, sagte Vilma. „Er ist doch sonst nicht so.“

      „Findest du?“

      Er wollte nicht, dass Vilma sich beunruhigt.

Womöglich entschloss sie sich, nicht mit Annie zu fahren

und lieber dazubleiben. Flühmann sagte:

      „Er hat noch immer angerufen. Da hab ich keine

Bedenken.“

      Er strich Vilma zärtlich durch’s Haar. Ihre Abreise

kam ihm sehr gelegen. Eigentlich hatte er kein schlechtes

Gefühl. So verwirrend im Augenblick die Lage aussah,

der Zufall oder das Glück? – waren auf seiner Seite. Er beugte

sich zu Vilma. Er blickte ihr in die kleinen überraschten

Augen. Er küsste sie auf die Stirn. Er war zuversichtlich. Ein

weites Feld sah er vor sich, ein Feld sich frei zu bewegen

und zu handeln, und er spürte keinerlei Angst. Er hatte drei Tage

Zeit, um abzuwarten, Palmieri kommen zu lassen oder

selbst zuzuschlagen. Drei Tage würde Vilma mit Annie in Paris

sein. Flühmann brauchte auf sie nicht Rücksicht zu nehmen.

Das war eine Erleichterung, kein Zweifel,

      „Wie geht’s ihm?“ fragte Vilma. „Jefff, meine ich.“

      „Nicht allzu schlecht, wie mir scheint. Ich muss allerdings

sagen, dass ich ihn bloss kurz gesehen habe, als er mich

im Hotel besuchte. Tja, und weisst du, irgendwie – irgendwie

fand ich, Jeff ist alt geworden.“

      „Es ist ihm doch nichts passiert?“

      Vilma hatte die Augenbrauen hochgezogen, ein Ausdruck,

in dem Flühmann ängstliches Erstaunen zu sehen glaubte.

Ob Jeff sich – ob ihm nicht doch etwas zugestossen war? Das

fragte sich Flühmann seit bald zwei Stunden. Er sagte:

      „Jeff? Ich nehme an, er hat sich wieder einmal zuviel

vorgenommen. Das ist nichts Neues bei ihm.“

      Flühmann zog die Schultern nach unten. Er setzte sich auf.

Er blickte auf die schmalen Finger, in denen Vilma einen

Umschlag hielt.

      „Kann ich die Fotos einmal sehen?“

      „Natürlich. Hier.“

      Flühmann schaute die Fotos durch.

      „Das ist doch in unserem Garten“, sagte er ohne Hast.

Es hatte ein paar wirklich gelungene Bilder darunter. Besonders

die hier, die mit der Kleinen unten am Teich.

      „Hast du die gemacht? Oder Annie?“

      „Welche meinst du?“

      „Nun, die da zum Beispiel. Die finde ich besonders gut.“

Er warf einen zweiten Blick auf die Foto. Olivia, die Kleine der

von Orellis, am Biotop. Flühmann musste daran denken,

wieviel Geduld er anfangs selbst gebraucht hatte, um irgendeinen Wasserläufer zu entdecken, der zwischen Schilf und

Rohrkolben herumstelzte. Oder eine Libelle. Minutenlanges

Warten. Nichts. Dann plötzlich etwas wie ein Frosch, der

sich sekundenschnell an der Wasseroberfläche blicken liess.

      „Ja, die hab ich gemacht.“

      Er sah in Gedanken den Garten vor sich, die Stelle bei

der Birke, wo das Grundstück in eine Böschung abfiel.

Von Anfang an hatte Vilma auf dem unteren Teil eine Magerwiese anlegen wollen, auf der Huflattich, Salbei und Hahnenfuss

blühten. Noch wichtiger war ihr allerdings dieser Teich gewesen,

ein Flecken Wildnis, in dem gedeihen sollte, was rundum

von der Zivilisation verdrängt und ausgerottet wurde. Und Vilma

war nicht wenig stolz, diesen Teich geschaffen zu haben,

Flühmann wusste das. Ein Biotop, hatte Vilma gesagt, aber

Flühmann war die Idee, die Natur schützen zu wollen,

zugleich rührend und makaber vorgekommen. Wenn er sich vergegenwärtigte, dass auf der Erde vier Millionen Jahre

Wildnis gewesen war! Andererseits –

      „Ach, Max. Ihr Männer habt ein gestörtes Verhältnis

zur Natur. Ihr wollt –“

      Aber Vilma hatte kaum zu reden begonnen, als das

Telefon sie unterbrach, ein Läuten, das Flühmann

durchfuhr, schrill wie eine Alarmglocke. Wenn das nun nicht

Jeff, sondern Palmieri ist? Flühmann war aufgesprungen.

      „Das muss Jeff sein.“

      Flühmann lief die Treppe hinauf. Im Arbeitszimmer oben

nahm er ab.

      „Hallo?“

      Es war Jeff. Er zögerte. „Bist du allein, ich meine –“

      „Bin ich.“

      „In meinem Büro heute Morgen – sie haben eine

Bombe an der Tür angebracht – die sollte losgehen, sobald ich

aufschliesse. Wahnsinn, die wollten mich –“

      „Nein.“ Flühmann war entsetzt.

      „Sie hat nicht gezündet. Das war meine Rettung. Mein Gott,

hab ich gezittert, als ich das Ding entdeckte.“

      „Bist du okay?“, fragte Flühmann. Die Verbindung war

erstklassig. Jeffs Stimme tönte wie von nebenan.

      „Oh, sicher. Ich hab nichts abbekommen, wenn’s das

ist, was du meinst“, sagte Jeff, nachdem er beredt geschwiegen

und Atem geholt hatte. „Ich hab das Ding gleich

verschwinden lassen. Nur der Schrecken sitzt mir noch

in den Knochen.“

      „Das kann ich verstehen.“

      „Zuerst hab ich gedacht, es ist eingebrochen worden.

Die sind offenbar durch’s Klosettfenster eingedrungen

und haben im Büro herumgewühlt. Verheerend, wie das hier

aussah.“

      „Du meine Güte!“

      „Hör zu, Max, ich bin nicht im Büro. Ich kann im Büro

nicht telefonieren. Dort ist es zu heiss. Hier geht

alles ein bisschen drunter und drüber, wie du siehst. Sie sind

eben erst gegangen, die Cops.“

      „Wer?“

      „Die Polizei. Verstehst du, ich wollte – ich konnte sie

schlecht loswerden. Sie waren so freundlich, so verständnisvoll.

Sie haben herumgestanden, zwei nette junge Detektive,

im Büro das Durcheinander, ich mittendrin und rundum die

Stellagen, die Ordner, die umgekippten, die Papiere.

Bist du noch da?“

      „Konntest du sie nicht heraushalten?“

      „Die Cops? Sie sind mit dem Nachbarn gekommen, der

sie gerufen hat. Ich war gerade zurück, nachdem ich

die Höllenmaschine aus dem Haus geschafft hatte. Aber das

verdammte Durcheinander, das bekamen sie natürlich

mit. Einer fragte, ob ich Feinde habe. Ich sagte, davon weiss

ich nichts.“ Jeff lachte mit hohler kippender Stimme.

„Mir macht das zu schaffen, hab ich ihm gesagt. So ein Überfall

aus dem Nichts heraus. Und immer auf die Kleinen!“

      „Du hast ihnen nichts gesagt von der Bewerbung bei Ford

in Edison, nehme ich an. Haben sie Hinweise?“

      „Ich weiss nicht. Gesagt haben sie nichts. Der Nachbar,

der gegenüber wohnt, hat sie angeblich noch gesehen.  Zwei

Männer. Aber möglicherweise hat’s auch einer allein getan.“

      „Nach was haben sie denn gesucht?“

      „Ich weiss nicht – ich habe keine Ahnung.“

      Ärger mischte sich in Flühmanns Mitgefühl. Und wenn sie

nur hatten zeigen wollen, dass sie dagewesen waren? Um

Jeff Angst zu machen, brauchten sie nichts, wonach sie suchten.

      „Du hast keine Ahnung?“

      „Es fehlt nichts, soweit ich sehe.“

      „Hör zu, Jeff. Bist du sicher?“

      „Es ist alles da. Mir fällt nichts ein, was ich vermisse.“

      „Und die Endlagerbescheinigungen?“

      „Die sind im Banksafe. Ich hab sie letzten Monat ausgelagert.

Wie kommst du darauf?“

      „Ich hab Palmieri hier.“

      „Was?“

      „Das heisst, genau hier hab ich ihn noch nicht. Zum

Glück. Aber er ist in Zürich, und was er jetzt verlangt, ist eine

Partnerschaft.“

      „Hab ich mir’s doch gedacht.“

      „Er war im Flugzeug. Da hat er sich an mich herangemacht.

Er will sich an der Confidential Phoenix beteiligen. Bis morgen Vormittag muss ich ihm Bescheid geben.“

      „Beteiligen? Womit?“

      „Eine mittlere fünfstellige Summe, hat er gesagt. Er ist

überzeugt, dass du einverstanden bist.“

      „Wahnsinn.“

      „Er ist es, der von Endlagerbescheinigungen redet.

Er hat gefälschte Papiere gefunden, die von der Confidential

Phoenix sind. Das behauptet er jedenfalls. Ich weiss

nicht, Jeff –“

      „Unmöglich.“

      „– und noch etwas. Er hat mir eine Abschrift gezeigt,

ein Tonbandprotokoll. Darin ist von dir, Jeff, die Rede. Welche

Vorteile es bringt, wenn du nach Edgeboro lieferst. Einer

fragt, ob sie das noch zulassen wollen. Die Namen waren alle

gestrichen. Palmieri hat den Wisch vorgezeigt, als sei

er der Retter in der Not.“

      „Partnerschaft? Das kann ich nicht machen. Das ist

unmöglich.“

      „Und was soll ich ihm sagen?“

      Es war so still in der Leitung. Er hörte Jeff atmen.

Und das war jenseits des Atlantiks. Werden sie Jeff erledigen?

Flühmann fasste sich ans Ohrläppchen. Oder mich?

      „Ich weiss nicht.“

      „Was Palmieri auf lange Sicht will, das ist die Confidential

Phoenix. Er will dich für seine Zwecke benutzen. Er sagt,

wo’s durchgeht. Da bin ich überzeugt.“

      Mit heiserer Stimme sagte Jeff: „Wir sind dabei, die

Confidential Phoenix zu verkaufen. Auch die zehn

Prozent, die dir gehören. Das kannst du Palmieri sagen.“

      „Ich kann’s versuchen.“

      „Ich glaube, das ist auch, was wir jetzt tun sollten.

Verkaufen. Du weisst, was ich meine.“

      „Das, was ich dir vorgeschlagen habe.“ Flühmann

streckte den Rücken. Der Dreh mit der Zephyr Link, nun also

doch. Eigentlich war er nicht überrascht, dass Jeff nun

zielstrebig darauf einschwenkte. Sie hatten den Fall ausgiebig

besprochen, und Jeff war keineswegs begeistert

gewesen. Andererseits war es das, was Flühmann an ihm

gefiel. Wenn die Situation es erfordert, konnte Jeff ganz

plötzlich einlenken. Ohne Vorbehalt.

      „Ich werde mit Vaduz telefonieren. Ich hoffe, wir sind

damit aus dem gröbsten heraus.“

      Ein beklemmendes Gefühl. Flühmann blickte zur Decke,

aber er sah nicht, was ihm plötzlich an der Sache nicht

mehr gefiel. Sah Jeff die Angelegenheit nicht zu optimistisch?

Bestimmt war Palmieri nicht nach Zürich gekommen,

um sich eine Absage erteilen zu lassen und enttäuscht den

Rückzug anzutreten. Jeff brauchte nur mit dem Finger

zu schnippen. Die Verträge lagen bei Dr. Gundelmeier, bis

ins Detail vorbereitet. Die Aktien der Confidential

Phoenix wurden vorläufig verkauft, Jeff blieb vorläufig

Geschäftsführer.

      „Was meinst denn du?“ fragte Jeff.

      Flühmann hörte, wie Vilma aussen an der Tür vorbeiging.

Sicher hatte sie zu packen begonnen. Wie hatte Jeff

den Dreh mit Vaduz genannt? Window dressing? Inhaber würde –

nach etlichen Manövern mit anderen Käufern, so war

es vereinbart – die Zephyr Link Corporation, vertreten durch

Dr. Gundelmeier, der als einziger Verwaltungsrat

fungierte. Soweit Flühmann wusste, gab es kein Gesetz,

das einem Rechtsanwalt im Fürstentum Liechtenstein

vorschrieb, die Identität des tatsachlichen Besitzers einer Firma preiszugeben. Deshalb war es so gut wie unmöglich

herauszubekommen, wem die Zephyr Link gehörte. Es genügte,

im Handelsregister den Namen der Gesellschaft und

des Vaduzer Rechtsanwalts anzugeben. Aber gab sich Palmieri

damit zufrieden? Flühmann sagte:

      „Ich weiss nicht, Jeff. Ich hab das Gefühl, du siehst die

Sache ein bisschen zu optimistisch.“

      „Ich glaube, dass wir’s schaffen. Das ist alles.“

      Flühmann fuhr sich durchs Haar. Als er den Verkauf

an die Vaduzer Adresse angeregt hatte, war es aus einem ganz

anderen Grund geschehen. Das Geld, das er in New York

an sich genommen und hierher in Sicherheit gebracht hatte, musste

zu Jeff zurück. Sauber, als ausgewiesener Gewinn. Der

Verkauf an die Zephyr Link würde Jeff gestatten, sein Geld auf

legalem Weg nach Amerika heimzuschaffen.

      „Du meinst, Palmieri wird sich mit einer solchen Antwort

zufriedengeben?“

      „Wie soll ich das wissen?“, fragte Jeff rasch. „Das ist das

letzte, was ich wollte, Max.“

      „Was?“

      „Dir Palmieri anhängen.“

      „Gut, aber ich hab ihn jetzt.“

      Jeff nestelte an irgendetwas herum. Mit einer Stimme,

die nicht gerade besorgt war, fragte er:

      „Soll ich herüberkommen? Brauchst du Hilfe?“

      „Im Augenblick nicht. Aber ich danke dir für’s Angebot.

      „Max, ich –“

      „Das rührt mich. Ich meine das wirklich.“

      „– Max! Du musst es sagen, wenn du mich brauchst.“

      „Ich glaube nicht, dass ich eine Bombe an der Tür habe wie

du. Und warum sollte sie beim zweiten Mal nicht losgehen?“

      „Palmieri? In der Schweiz? Das getraut er sich nicht.“

      „Ich will schauen, was ich machen kann.“ Eigentlich hatte

der Satz keinen Sinn, aber Flühmann störte das nicht.

      „Und die Scheine? Bist du sie losgeworden?“

      „Nein, noch nicht. Das mach ich morgen.“ Das Geld,

wunderte sich Flühmann. Den ganzen Tag hatte er das Geld mit

sich herumgetragen. Hätte Jeff nicht danach gefragt,

so wäre Flühmann darauf nicht zu reden gekommen. Er hatte

es über den naheliegenderen Dingen, die sie verbanden,

vermutlich glatt vergessen. Flühmann sagte:

      „Ich will sicher gehen. Du weisst warum.“

      „Ist schon gut.“

      „Übrigens, Vilma fährt für drei Tage weg.“

      „Sagst du ihr einen Gruss von mir?“

      „Ja. Und du, lass Elinor von mir grüssen.“

      „Mach ich.“

      Hinter Jeff war ein polternder Aufprall zu hören,

als krachte ein schwerbeladenes Wandgestell zu Boden.

      „Jeff?“

      „Ich bin noch da.“ Jeff lachte unsicher.

      „Was war denn das?“

      Alles war wieder still. „Ich weiss nicht“, sagte Jeff. „Das kam

von nebenan.“

      „Seltsam.“ Eigentlich wären sie fertig, dachte Flühmann.

Sie könnten einhängen, und doch hielt etwas in diesem

Augenblick sie beide zurück. Um etwas zu sagen, fragte Flühmann:

      „Hast du von Sandy etwas Neues?“

      „Nein.“

      Ein sägendes Geräusch ertönte und brach plötzlich ab.

Fürchterlich.

      „Jeff?“, fragte Flühmann irritiert. „Wie hast du gesagt,

heisst Sandys Freund? Der junge Autor, der in Europa ist und

schreiben will?“

      „Bob Franey. Warum fragst du?“

      „Nur so.“ Flühmann tastete nach der Aussentasche

seines Kittels. Es war schon merkwürdig gewesen,

wie Bob Franey sich an ihn herangemacht hatte. Jetzt hielt

Flühmann die Rechnung in der Hand, die er vor dem

Klub eingesteckt hatte. Der Blick, den Bob Franey ihm zugeworfen

hatte. Ein kurzer verächtlicher Blick. Gewiss.

      „Nein, mit Sandy ist nichts Neues“, sagte Jeff.

      Wieder das Geräusch. Sägend, krachend. Nun hörte es sich

auf einmal zudringlich an, beinahe bedrohlich.

      „Jeff?“

      „Ich muss jetzt Schluss machen. Hier ist jemand, der sägt

die Wand entzwei.“

      „Wo bist du überhaupt?“

      „Du hörst von mir, sobald ich kann.“


Nun war Jeff weg. Flühmann lag im Dunkel an Vilmas Seite

im Bett, die Hand um ihre Hüfte gelegt, die von einem

seidenen Nachthemd bedeckt war. Er suchte sich aufzurichten,

um mit der Hand über die sanft geschwungene

Seitenlinie ihres Körpers zu fahren. Es musste mitten in der

Nacht sein. Flühmann liess die Augen zufallen und

öffnete sie wieder. Wie unbekümmert und erregend Vilma daliegt!

      „Du bist nicht wie sonst“, sagte Vilma. Sie entzog

sich Flühmann, ohne ihn zurückzustossen. „Ist es das, was

du vorhast?“

      „Ich weiss nicht. Ich kann’s nicht sagen.“

      „Hab ich dir gefehlt?“

      „Sehr.“ Flühmann lachte innerlich. Wie schön Vilma

aussieht! Er liess die Finger über ihren gebräunten

glatten Bauch wandern, hinunter bis zur hübschen behaarten

Wölbung, die er zwischen ihren Beinen wiederfand.

„Du hast mir sehr gefehlt.“ Ihre Hände begannen auf seinem

Rücken zu tanzen, als rufe sie ihm Koseworte zu.

      „Ich hab solche Sehnsucht gehabt“, sagte Vilma.

Sie fiel Flühmann mit wilder Kraft um den Hals. Er stiess mit

seinem Mund auf ihren, sie küssten sich verlangend

und tief. War es nicht wundervoll, mit Vilma hier zu sein?

Wie von selbst streifte seine Hand über die Glätte

der Innenseite ihrer Schenkel, immerzu einwärts, bis in die

feinsten Poren hinein.

      „Komm, komm!“ flüsterte Vilma ihm zu. Sie hielt

die Augen geschlossen und bäumte sich auf; Flühmann

war im nächsten Augenblick über ihr. Langsam, sie

umarmend drang er in sie ein.


Auf der Seestrasse war lebhafter Verkehr. Flühmann fuhr

in der Kolonne stadteinwärts. Jetzt fühlte er sich wach.

Dabei war Flühmann mit dem Gefühl aufgewacht, gerade erst

eingeschlafen zu sein. Durch die angelehnte

Schlafzimmertür war Tageslicht eingedrungen, unbändiges Vogelgezwitscher. Vilma? Sogleich hatte Flühmann

die Hand ausgestreckt. Vilma? Das Bettlaken an ihrer Stelle war

kalt und verlassen. Im Wohnzimmer war Flühmann

auf die Notiz gestossen, die Vilma ihm hinterlassen hatte:

My beloved sleeper! Ich kann dich also drei Tage

allein lassen? Und du bringst mir das Haus nicht in Verruf?

Ich küsse und umarme dich. Early bird. Schade,

dachte Flühmann. Es war ihm, als hätte er im Halbschlaf

eine Autotüre zufallen hören.

      Es war zehn Minuten nach neun Uhr, als Flühmann

auf die Fraumüsterpost zuging und eine der Telefonkabinen

betrat, die an der Hauptfassade leer standen. Eigentlich

sinnlos, sagte Flühmann sich. Aber was heisst hier sinnlos?

Das wäre wenigstens nicht weiter schlimm. Ebensogut

konnte man finden, es sei dumm und gefährlich einen Mann

wie Palmieri anzurufen, einfach um ihm zu sagen:

Nein, es geht nicht!

      Gewölk hatte sich vor die Sonne geschoben;

es versprach ein launischer windiger Augusttag zu werden.

Über Nacht war die Luft merklich abgekühlt, aber

nach Regen sah es vorderhand nicht aus. Plötzlich kam

es Flühmann vor, als sei er zu früh dran, viel

zu früh. Er war zeitig losgefahren, gewiss. Was wollte

er zu Hause noch? Aber dann war er hier sogleich

auf diese Parklücke gestossen, und damit hatte Flühmann

in unmittelbarer Nähe des Paradeplatzes

nicht gerechnet.

      Ob er beschattet wurde? Durch das Kabinenglas warf

Flühmann einen Blick zurück auf seinen am nahen Strassenrand abgestellten BMW. Zwei Männer gingen auf dem

Trottoir gegenüber. Eine Frau. Sie strebten in geschäftiger

Eile Richtung Paradeplatz. Ein olivgriiner Bentley fuhr

vorbei, ohne dass sie ihn beachteten. Flühmann nahm den

Hörer, räusperte sich und warf Kleingeld ein. Und

in seinem Rücken? Unter den um diese Zeit noch spärlichen

Kunden der Schalterhalle? Flühmann wandte sich

um. Nein, hier schien keiner zu stehen, der sich an einem

der Schalter angestellt hatte oder sonstwie herumstand,

um ihn im Auge zu behalten. Flühmann wählte die Telefonnummer,

die er zu Hause nachgesehen und sich gemerkt hatte,

was weiter nicht schwer war. Eine verblüffend einfache Nummer.

      „Hotel Zürich.“

      Es war eine Frauenstimme, jung, frisch, die sich am

anderen Ende meldete. Flühmann fragte nach Palmieri, der ihn

mit aufgekratzter erwartungsfroher Stimme begrüsste.

Palmieri sprach Amerikanisch wie im Flugzeug, nur dass er

Flühmann jetzt begrüsste, als seien sie unzertrennliche

Freunde, die sich mehrere Jahre nicht gesehen hatten. Dann

wurde sein Ton frostiger.

      „Sie kommen früher als erwartet, Herr Flühmann“,

sagte Palmieri schnippisch, indem er das deutsche „Herr“

benutzte. „Was hat Sie aus dem Bett getrieben?“

      „Hören Sie, Mr. Palmieri.“ Ganz plötzlich war Flühmann

klar, dass er’s Palmieri nicht sagen konnte, sondern

versuchen musste, es anders zu machen, als Jeff vorgeschlagen

hatte. „Ich kann’s Ihnen nicht auf den Tisch legen,

aber ich glaube, es lässt sich machen. Bestimmt.“ Es überraschte

Flühmann, wie sicher er sich dabei vorkam. „Das Problem

ist, ich brauche mehr Zeit dazu.“

      „Ach, nein! Und wo soll der Haken sein? Ich dachte,

wir könnten das heute in Ordnung bringen.“

      „Es lässt sich machen. Bestimmt.“ Flühmann hoffte,

es würde sich halbwegs überzeugend anhören.

Ob es ihm gelänge, Palmieri hinzuhalten? Er musste ihm

einen Köder hinwerfen. „Mir gehören zehn Prozent.

Die können Sie haben, wenn Sie wollen. Die Aktien – die sind

hier im Depot. Nur kann ich sie ohne Mr. Winter nicht

herausbekommen. Er hat mir am Telefon versprochen, sofort

alles Notwendige in die Wege zu leiten. Nur, es dauert

manchmal ein oder zwei Tage, bis die Bestätigung hier bei

der Bank ist.“

      „Ich mag das nicht. You understand?“ Palmieris Stimme

war scharf geworden. Sie hatte den launigen Tonfall

vollends verloren. „In zwei Stunden läuft die Frist ab. Das wissen

Sie. Und was ist? Sie haben nicht einmal –“

      „Das ist verrückt. Das geht nicht.“ Flühmann gab sich

Mühe, seinen Worten einen gepeinigten Tonfall zu geben. „It’s

impossible. So über Nacht kann ich das nicht.“

      Palmieri lachte ein böses Lachen. „Wenn das herauskommt,

was ich über die Confidential Phoenix vorliegen habe, kann

Mr. Winter sich die Mühe sparen. Und Sie, Herr Flühmann, auch.“

      „Mir scheint, Mr. Palmieri, Sie vergessen eine Kleinigkeit.

Finden Sie nicht? Hier liegt, wenn ich Sie daran erinnern

darf, der entscheidende Unterschied. Ich nehme nicht an, Sie

wollen Geld in eine Gesellschaft stecken, die –“

      „Unterschied?“, rief Palmieri ungläubig. „Ich bin nicht

so, ich nicht. You know, what I mean? Ich kann nur

sagen – also, ich gebe Ihnen noch einmal vierundzwanzig

Stunden, aber das muss klar sein: Wenn Sie morgen

um elf mit den Papieren nicht hier sind –“ Es hörte sich an,

als spielte Palmieri mit einem Feuerzeug. „See you,

Herr Flühmann.“

      Noch einmal vierundzwanzig Stunden, dachte

Flühmann, als er einhängte. Er zog einen gefälschten, zwei

Jahre alten Schweizer Pass hervor und warf einen

letzten prüfenden Blick auf seine Foto. Der Pass gehörte

einem Pierre Hutterli, Fürsprecher, Bürger von

Worblaufen, Kanton Bern, und dieser Pierre Hutterli verfügte

über eine eher staksige Unterschrift. Als Flühmann

aus der Telefonkabine trat, lief hastig ein Mann mit einer

Kamera an ihm vorbei. Hinter einem Lieferwagen

sah Flühmann erneut den olivgrünen Bentley. Keine halbe

Minute später überquerte er die Bahnhofstrasse. Er

betrat die Schalterhalle der Schweizerischen Kreditanstalt,

wo er bei Herrn Eberli zwei Bündel Dollarnoten auf

das Konto der Zephyr Link Corporation in Vaduz einzahlte,

das aus einer sauberen anonymen Nummer bestand.

Die Säulenhalle. Das Oberlicht. Die Palmwedel. Flühmann

war bester Laune.

      „Das ist ihre Quittung, Herr Dr. Hutterli. Und einen

schönen Tag noch.“

      Ein gutes Gefühl, Palmieri im Hotelzimmer zu wissen,

dachte Flühmann. Er trat erleichtert auf den Paradeplatz hinaus.


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